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„Komm’ mit“, befahl er mir.

       Ich wunderte mich, als er auf dem Weg zum Gänsegehege Steinchen sammelte.

       Ich dachte, er wollte die Biester auch bewerfen.

       „Stell’ dich an den Zaun!“

       Und ehe ich mich versah, bewarf er mich. Einige gingen daneben, zwei trafen mich. Sie taten weh. Ich hob die Hände vors Gesicht, total erschrocken.

       „So erging es den Gänsen auch!“

       Er drehte sich mit versteinerter Miene um und ging ins Haus. Ich kramte meine Mundharmonika aus der Hosentasche und verschwand auf dem Plumps-Klo. Es kann sein, dass er mir an seinem geöffneten Fenster zugehört hatte, als ich heulend spielte: „Wenn ich ein Vöglein wär’ …“

      Besonders als pubertärer Jugendlicher habe ich die Macht und Vergänglichkeit der Allmutter hautnah in mich eingesogen. Zutiefst prägten mich die jahreszeitbedingten Düfte, die immer neu erwachenden und absterbenden Pflanzen, das Treiben der Tiere und die Verwertung von Flora und Fauna. Genau dieses Gefühl, im Einklang mit der Natur zu sein, von ihr zu lernen, sie zu achten, sie zu schützen, sie zu nutzen, wollte ich zu meiner Lebensaufgabe machen. Förster war mein Traum. Nach ersten Erkundigungen wurde mir erklärt, dass man als Förster ein ausgezeichnetes Gehör besitzen müsse und als Brillenträger kaum eine Chance hätte. Aus der Traum. Pastor ging auch nicht, wegen des Zölibats.

      Wie das Leben so spielt, wurde ich Sozialpädagoge. Nach Jahren pädagogischer Bildungsarbeit gründete ich mein eigenes, privates Kinderheim. Als ich den Jugendämtern meine Idee vortrug, gerade die Kinder und Jugendlichen aufnehmen zu wollen, die in Pflegefamilien oder anderen Einrichtungen nicht mehr ‚tragbar‘ seien, schmunzelte man und vermittelte mir äußerst schwierige Jugendliche.

      Jugendliche, die vielfältigen Methoden pädagogischer Art ausgesetzt waren – ohne positive Verhaltensänderungen, benötigen eine andere Pädagogik, schlussfolgerte ich damals, nachdem ich während meines Praktikums in einem von Ordensschwestern geführten Heim für Schwererziehbare tätig gewesen war und erlebt hatte, wie Jungen in der Natur aufblühen: Erstens werde ich im Heim mit den Kindern leben, wie die Nonnen, und zweitens wollte ich meine Empfindungen zur Natur als Maßstab meiner Pädagogik machen, ein Leben unter Einbindung der Natur und ein Leben mit Musik.

      Thomas. Vierzehn Jahre alt, heimerfahren, galt als hyperaktiv, übernervös, konnte keine Minute still sitzen. Die weiblichen Mitarbeiterinnen hatten keine Ahnung, was sie mit solch einem Jungen anstellen könnten. Matschen im heimeigenen Matschraum fand er blöde, reagierte aggressiv gelangweilt, klaute Zigaretten und besorgte sich Alkohol. Höchste Zeit, ihn loszuwerden:

      „Er steckt alle anderen Kinder mit seinen Verwahrlosungstendenzen an“, wie in seiner Akte dokumentiert war.

      Er war eine Woche bei mir.

      „Unsere Frettchen brauchen frisches Fleisch“, ermunterte ich Thomas, „kommst du mit, ich muss ein Kaninchen schießen, weil die Frettchen heiß darauf sind!“

      Er schaute mich fragend an. Eine halbe Stunde später saßen wir an der Ems.

      „Die Emsdeiche wurden regelmäßig unterhöhlt, deswegen müssen wir Jäger die Kaninchen kurz halten, wir wollen ja nicht, dass die Deiche bei Hochwasser brechen“, erklärte ich ihm.

      Ich zeigte auf einen Kaninchenbau, zwanzig Meter entfernt, und deutete ihm an, ganz still zu sitzen.

      „Wenn du ganz ruhig im Gras sitzen bleibst und dich nicht bewegst, kommt bestimmt eins heraus!“

      Ich stellte mich hinter einen Baum mit Blick auf ihn und den Bau. Er saß im Gras, die Mücken schwirrten um ihn herum, er wehrte sie nicht ab, saß unbewegt, den Bau beobachtend. Nach fünfzehn Minuten hoppelte ein Jungtier heraus. Ich schoss. Es lag im Gras. Thomas sprang auf, um es zu holen.

      „Es zappelt ja noch“, wunderte er sich.

      „Das sind die Nerven. Nimm es an den Hinterläufen hoch.“

      Er nahm das tote Tier vorsichtig aus dem Gras, streichelte das Köpfchen und trug es zum Auto. Er sah, dass mich der Tod des kleinen Geschöpfes mitnahm.

      „Den Frettchen wird es schmecken“, schluckte er.

      Zuhause zerwirkten wir es und gaben es den Frettchen. Abends berichtete ich im Familienrat von diesem Ereignis und der Tatsache, dass Thomas über eine viertel Stunde absolut unbeweglich im Gras gesessen hätte, ein Junge, den man wegen seiner Hyperaktivität abgeschoben hatte!

      Er und die anderen Jungen nahmen als „Edeltreiber“ an unseren Treibjagden teil, rupften Wildenten, die sie gewinnbringend an Restaurants veräußern und damit ihr Taschengeld aufbessern konnten, sie hängten Jagdtrophäen, von Jägern geschenkt, oder Abwurfstangen in ihren Zimmern auf und genossen dieses naturnahe Leben.

      Wenn sie allein nachts an unserem Angelteich am Lagerfeuer saßen, dem Quaken der Frösche lauschten oder den jungen Nutrias zusahen, wie sie sich um die frischen Maiskolben stritten, waren sie glücklich. Und wenn ich sie nachts um halb drei besuchte, weil ich sicher sein wollte, dass es ihnen gut geht, ihnen frische Brötchen bei Sonnenaufgang servierte, und ihre strahlenden Augen sah, wusste ich, dass diese Pädagogik menschlich und klug war: Sie baute auf gegenseitiges Vertrauen, respektierte abenteuerhafte Elemente, setzte angemessene Grenzen, die eingehalten wurden, eröffnete Freiräume und stärkte das Selbstwertgefühl. Die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung!

      Mit dem Ergebnis, dass die Mädchen an dieser abwechslungsreichen Lebensgestaltung teilhaben wollten, wie die Jungen. Sie hatten keine Lust darauf, immer nur am Wochenende mit den Erzieherinnen ins Hallenbad oder die Eishalle zu fahren und forderten naturnahe Abenteuer.

       Hundevernarrt

       Micki, eine Airedale-Terrier-Hündin lag zu meinen Füßen und hörte mir zu. Sie verstand mich. Egal, wo ich war, immer begleitete sie mich. Auch zum Baden in der Ise. Sie hatte Bekanntschaft mit den Kühen gemacht. Zuerst war sie erschrocken, die Rinder ebenfalls. Beim dritten Treffen näherten sie sich einander, beim vierten rieben sie Nasen an Nasen. Manchmal glitt die raue Kuh-Zunge über Mickis Gesicht, so sehr mochten sie sich.

       Mutter hatte mir verboten, den Hund am Tisch zu füttern. Ich saß im Esszimmer und verspeiste die leckeren mit Wurst belegten Scheiben. Micki saß neben mir auf seinen Hinterbeinen, den Kopf in Tischhöhe, die Knopfaugen bettelnd. Dem Blick konnte ich nicht widerstehen. Eine zusammengeklappte Scheibe wechselte den Besitzer. Sie schnüffelte, ob wohl keine Tablette dazwischen versteckt sein würde, und begann zu kauen. In diesem Augenblick betrat meine Mutter das Zimmer.

       Erschrocken zuckte ich zusammen. Micki hörte sofort auf zu kauen.

       „Du gibst ihr doch wohl nichts ab?!“

       „Nein, Mutti, ich doch nicht!“

       Kaum hatte meine Mutter das Zimmer verlassen, kaute Micki weiter. Wirklich.

       Ich meinte, sie lächeln zu sehen, als sie die Scheibe Brot samt Leberwurst mit Genuss zerkleinerte.

       Erika, die begnadete Landschafts- und Blumen-Malerin, lebte in einem Haus, umgeben von unendlich vielen Blumen, auf halber Strecke zwischen unserem Haus und dem Dorf. Ihr großer, zotteliger Bernhardiner liebte es, meiner kleinen Schwester Angst zu machen. Wenn wir beide an seinem Grundstück, das er zu bewachen hatte, vorbei fuhren, sie zur Grundschule, ich zum Bahnhof, bellte er tief und drohend. Ich beruhigte sie und sagte, dass er ihr nichts tun würde. Außerdem sei das Tor verschlossen.

       An einem Wintertag, es hatte kräftig geschneit, zog ich meine Schwester auf dem Schlitten hinter mir her. Es war am Morgen,

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