Скачать книгу

Über drei Millionen Sudetendeutsche wurden 1945 und 1946 gewaltsam aus ihrer angestammten Heimat abtransportiert. Einer von ihnen ist der Herausgeber dieses Zeitzeugnisses.

      Im Frühjahr 1945 kamen die letzten Reste der geschlagenen Truppen der deutschen Wehrmacht durch Grulich. Danach strömten die siegreichen Russen hinein und kurz darauf auch die Tschechen. Letztere haben dann in ihrer blinden Rache furchtbare Exzesse der Gewalt veranstaltet. Die Häuser wurden okkupiert. Meine Mutter durfte in ihrem eigenen Haus mit zwei kleinen Kindern im Alter von ein und zwei Jahren nur noch eine einzige Stube im Dachgeschoss bewohnen. Im Jahr 1946 kam dann die geplante Vertreibung. Die Tschechen wollten endlich 'ihre' Deutschen loswerden. Auf Befehl mussten sich am 1946 alle Deutschen am Bahnhof sammeln, und an einem Tag im Mai war es auch für meine Mutter und uns beide Kinder so weit. Meine Mutter durfte, wie alle anderen, nur das Nötigste mitnehmen. Mehr konnte sie auch nicht tragen, sie hatte ja noch zwei kleine Kinder, die auf diesem schweren Weg versorgt werden mussten. Die Menschen wurden in offene Viehwaggons verladen. Dann ging es nach Westen, in die amerikanische Zone. Ziel war zunächst Würzburg und dann Ochsenfurt.

      Von all dem habe ich keine Erinnerung. Damals war ich noch nicht zwei Jahre alt. Ich weiß auch nicht, was meine Mutter als wichtig genug erachtet hatte, um es zusätzlich zu den allernötigsten Dingen auf dem Transport mitzuschleppen. Viel kann es nicht gewesen sein. Ob damals schon die vorliegenden Tagebuchaufschreibungen dabei waren, kann ich deshalb nicht mit Gewissheit sagen. Falls sie später erst auf verschlungenen Wegen in den Besitz meiner Eltern gekommen sein sollten, wüsste ich es nicht zu erklären. Tatsache ist, dass ich im Nachlass meines Vaters einen grauen Aktendeckel vorfand, der 258 Blatt Durchschlagpapier mit den Aufzeichnungen des Josef Brauner aus der Zeit des Ersten Weltkriegs barg. Es waren Kopien auf Durchschlagpapier mit Kohlepapier angefertigt, wie es damals üblich war. Ich weiß nicht, wo das Original ist, wie viele Durchschläge möglicherweise angefertigt worden sind und wo sie sich befinden. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass eine weitere Durchschrift der Tagebücher im Grulicher Stadtmuseum aufbewahrt wird.

      Beim Studium dieser akribischen Aufzeichnungen habe ich festgestellt, dass der Schlüssel für das Verständnis der leider tragischen Geschichte der Deutschen in Böhmen ganz wesentlich in den lokalen Geschehnissen während des Ersten Weltkrieges und danach liegt. In diesen Aufzeichnungen kommt immer wieder zum Ausdruck, wie sich die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen im k. u. k. Böhmen während des Ersten Weltkrieges entwickelten und leider immer stärker von gegenseitigem Misstrauen geprägt wurden.

      Die Koexistenz zwischen Deutsch-Böhmen und Tschechen war allerdings schon vor dem Ersten Weltkrieg vergiftet. Die gegenseitige Abneigung hat sich im Verlauf der Geschichte aufgebaut und verstärkt. Der verlorene Krieg und die Staatsgründung der Tschechoslowakei haben diese zerrütteten Beziehungen schließlich verhärtet und offenbar gemacht.

      Die Deutsch-Böhmen waren immer ein ungeliebter Bevölkerungsteil des neuen Staates. Deutsche und Tschechen waren nie staatsbürgerliche Partner, sondern immer nur Rivalen. Insofern ist das Tagebuch des Josef Brauner – von ihm selbst Aufschreibungen genannt - äußerst hilfreich, um dies und die weitere Entwicklung zu verstehen.

      Josef Brauner erzählt authentisch, wie sich der Erste Weltkrieg auf das soziale, wirtschaftliche und militärische Leben in Grulich ausgewirkt hat. Detailgetreu geben die Aufschreibungen wieder, was damals geschehen ist und was die Menschen bewegt hat. Sie sind ein Spiegel der damaligen Verhältnisse und ein faszinierendes Zeugnis der deutschsprachigen Minderheit Böhmens. Andere Gemeinden Deutsch-Böhmens werden ähnliche Geschichten aufzuweisen haben.

      Bei der Lektüre dieses Tagebuches muss man sich in die damalige Zeit versetzen: Die Menschen wurden zur Ergebenheit gegenüber der Obrigkeit erzogen. Es gab noch keinen Rundfunk, von Fernsehen und Internet ganz zu schweigen. Die einzigen Informationsquellen für die Meinungsbildung waren damals die Zeitungen und das, was die Leute selbst erlebt haben.

      Als Sekretär der Stadtverwaltung von Grulich hatte der Autor darüber hinaus Einsicht in alles, was sich in der Stadt von Amts wegen tat. Die Tagebücher enthalten daher auch genaue Angaben zur Bevölkerung, Mobilisierung, zu weiteren interessanten Statistiken und zu den politischen Einstellungen während des Krieges und in den für die Deutsch-Böhmen tragischen Jahren nach dem Krieg. Die Tagebücher sind daher eine Fundgrube für historisch Interessierte. Aber sie zeigen auch, wie Unterwerfung und gewaltsame Eingliederung von Menschen in Staaten Unfrieden und Hass schüren. Das Tagebuch ist deshalb auch eine eindringliche Mahnung an alle Menschen zur gegenseitigen Achtung, zu Respekt und Menschenwürde. Um die Authentizität dieses Tagebuches auch im Sinne der Konservierung des Zeitgeistes zu erhalten, wurden wie alle anderen politischen Bewertungen tendenziell antisemitische Meinungsäußerungen, von denen sich der Herausgeber in aller Form distanziert, unverändert übernommen.

      Was Orthographie und Interpunktion angeht, so wurde der Text an den Stellen, wo der Originaltext stark von unserer heutigen Schreibweise abweicht, leicht überarbeitet. Außerdem wurden einige heute ungebräuchliche Ausdrücke durch entsprechende Bezeichnungen mit gleichem Sinn ersetzt, um die Verständlichkeit zu verbessern. Umfangreichere wörtliche Zitate sowie die teilweise umfassenden Namenslisten wurden aus dem Text herausgenommen und in den Anhang verwiesen. Ferner sind alle in diesem Tagebuch vorkommenden Namen im Anhang in alphabetisch geordneten Einzellisten aufgeführt.

      Zur besseren Übersichtlichkeit wurden jedes Datum zu einem Eintrag und die dafür verwendeten Schlagworte durch Fettschrift hervorgehoben. Zu einigen Namen und Begriffen wurden Fußnoten mit Erklärung hinzugefügt. Rainer Ostermann danke ich für die kritische Durchsicht und viele wichtige Hinweise für die Veröffentlichung des vorliegenden Tagebuches. Mein Dank gilt ebenso Karl Mück, Obmann des Vereins der Adlergebirgler, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand, sowie Elisabeth Pischel von der Geschäftsstelle des Vereins der Adlergebirgler in Waldkraiburg für ihre wertvolle Unterstützung.

      Bad Endorf, im Dezember 2015 Dr. Dieter Benatzky

Das Tagebuch

      In Grulich wurde die teilweise Mobilisierung am Sonntag, dem 26. Juli 1914 bekanntgegeben. Bereits zuvor war die Beschränkung des Verkehrs auf den Eisenbahnen erlassen worden.

      Ich saß gerade beim Sonntagsfrühschoppen im Gasthaus des Richard Prause, als mich der städtische Amtsdiener Gottfried Stöhr vom Eintreffen des Mobilisierungsbefehls verständigte. Sofort begab ich mich zur Dienstleitung in die Stadtkanzlei.

      Eine große Volksmenge stand beim Amtshaus und bei der Pfarrei, wo die Mobilisierungskundmachung angeschlagen war. Menschengruppen standen auch auf den Straßen und Plätzen und vor allen Haustüren. Es war wie bei einem aufgeregten Bienenschwarm.

      Binnen 24 Stunden mussten die Einberufenen zum Militärdienst einrücken. Bei der Abreise spielten sich Jammerszenen ab; denn so mancher wird die Heimat und seine Angehörigen wohl nicht mehr sehen. Wenn es mit dem Kriege nur bei Serbien bliebe!

      Aber das ist eine schwache Hoffnung. Schon höhnen die Serben, dass sie bei einem bevorstehenden Kampf nicht allein sein werden. Damit ist offenbar Russland gemeint, welches schon seit Jahren unserer Monarchie mit unendlicher Gehässigkeit gegenüber steht.

      31. Juli 1914: Es ist so: Russland, das autokratische Russland, spielt sich als Beschützer der serbischen Königsmörder auf.

      Eine allgemeine Mobilmachung ist heute angeordnet worden.

      Insgesamt sind aus Grulich, soweit die bisherigen Erhebungen zeigen, 153 Mann eingerückt. Von denen sind allerdings wieder 13 Mann rückbeurlaubt worden. Von den städtischen Beamten und Angestellten mussten einrücken: Kassier Hans Philipp, Amtsdiener Gottfried Stöhr und die Polizeiwachleute Josef Zwiener, Josef Brauner und Ferdinand Gottschlich.

      Nun geht der schon lange befürchtete Weltbrand los. Deutschland, unser treuer Bundesgenosse, erklärt Russland den Krieg, nachdem schon zuvor russische und auch französische Truppen die deutsche Grenze überschritten hatten. Deutschland, auch von Frankreich bedrängt, muss Luxemburg besetzen und in Belgien einrücken, um einem Vorstoß des französischen Heeres

Скачать книгу