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auf dem Rücken trugen, und warfen die nackte Leiche auf den Wagen. »Vorwärts!«, riefen die heiseren Kehlen, und der Wagen, Blutspuren hinterlassend, rasselte weiter, neue Opfer aufzusuchen und in Empfang zu nehmen. Fast selbst eine Leiche vor Entsetzen und Jammer, blickte der junge Mann auf die von Freundesblut geröteten Steine; ihm war, als ob die ganze Natur nach Rache schreien müsse über diesen Frevel, aber vor Entsetzen verstumme wie er selbst. Mechanisch setzte er endlich seinen Weg fort, trat in der nächsten Straße in einen Bäckerladen und kaufte für sein letztes Geldstück ein Brot; dann beeilte er sich, wieder nach Hause zu kommen. Als er um eine Straßenecke bog, stieß er auf eine Gruppe Menschen, die neugierig einen großen Anschlagzettel lasen. Unwillkürlich blieb er einen Augenblick stehen und richtete seine Blicke auf das Papier, das Folgendes enthielt:

       »Eine Belohnung von dreitausend Dukaten wird dem zugesichert, welcher dem Generalkommando den Verfasser der Schmähschrift ›Die Jesuitenkrone‹ dergestalt zur Anzeige bringt, dass er zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wer imstande ist, dem Vaterland diesen Dienst zu erweisen, kann sich außer der Belohnung auch der Verschweigung seines Namens für gewiss halten.«

      »Dreitausend Dukaten!«, sprach Richard leise vor sich hin, indem er weiterging. »Dreitausend Dukaten werden hier einem Verräter angeboten, während ich seit Jahren nicht imstande war, durch den angestrengtesten Fleiß so viel zu erwerben, dass ich meine arme Mutter vor Mangel schützen konnte. Elendes, schmachvolles Leben, du machst mich irre an der Vorsehung!«

      Als er in das Dachstübchen trat, fand er seine Mutter darin vor. Sie war sorglos beschäftigt, schon längst verdorrte Blumen mit Wasser zu begießen und deren zusammengetrocknete Blätter unter leisem Gesang sorgfältig zu entfalten. Dieser Anblick brachte den armen jungen Mann wieder zur Wirklichkeit zurück; der Schmerz über den traurigen Geisteszustand seiner Mutter zerstörte die Rinde, die der Lebensüberdruss um sein Herz gebildet hatte; mit inniger Teilnahme sah er der Beschäftigung der Kranken einen Augenblick zu.

      »Mutter«, sprach er mit Tränen in den Augen, »hier ist Brot!«

      »Brot?«, rief Frau Bertram schnell, indem sie vom Fenster zurücktrat und sich mit kindischer Freude an den kleinen zerbrechlichen Tisch setzte. »Brot? Das ist schön, mein Sohn, denn mich hungert. Komm, wir wollen unsere Mahlzeit halten; wenn Herr Wilibald erwacht, werde ich ihm auch ein Stück von diesem schönen Brot bringen; der arme Mann hat schon seit einigen Tagen nichts gegessen, nur Wasser hat er getrunken. Komm, Richard, und iss!«

      Mit den letzten Worten hatte sie ein Stück abgeschnitten, dann begann sie mit großem Appetit zu essen. Richard hatte Mühe, seine Tränen zu verbergen.

      »Soll ich meine Mutter beklagen oder sie beglückwünschen«, murmelte er vor sich hin; »sie lebt in ihrer eigenen Welt, unbekümmert um die Leiden dieser Erde; ein Stück Brot genügt, um sie glücklich zu machen. O ewiges Rätsel, ob dich der Tod zu lösen vermag? Großer Gott, zerstöre das Glück meiner Mutter nicht, gib ihr nimmer den Verstand wieder, denn die Erkenntnis dieses Lebens ist der Vorgeschmack der ewigen Verdammnis! Ja, es ist eine Verdammnis, Verstand zu besitzen, denn er sagt mir, dass ich vielleicht morgen nicht imstande bin, das Glück dieser Armen zu erhalten und ihr ein Stück Brot zu verschaffen, wenn ich nicht betteln will. O wie ohnmächtig, wie elend bin ich mit meinem Verstand!«

      In dumpfer Verzweiflung starrte Richard vor sich hin. Plötzlich, als ob ein Entschluss in ihm entstanden wäre, sprang er auf, setzte sich an seinen Schreibtisch, ergriff die Feder und begann einen Brief zu schreiben.

      Ein leises Klopfen im Nebenzimmer ließ sich vernehmen. Es war das Zeichen, dass der Kranke ein Begehren hatte.

      »Du willst arbeiten«, sprach Frau Bertram; »gut, dann gehe ich zu unserm Kranken, um ihm seine Mahlzeit zu bringen, denn er ist erwacht. Auf Wiedersehen, mein Sohn!«

      Die Mutter hatte das Zimmer verlassen. Richard war allein.

      »Herr Direktor!«, schrieb er, »meine Mutter ist krank und durch den Druck der Zeit von allem entblößt, was der Armen einige Linderung verschaffen könnte. Elend und Verzweiflung bringt der nächste Tag, wenn Sie der Kranken ein Plätzchen in dem Hospital verweigern, das unter Ihrer Leitung der leidenden Menschheit stets ein schützendes Asyl bietet. Im Namen Gottes bitte ich Sie, erbarmen Sie sich meiner Mutter, geben Sie ihr die Segnungen, die die allgemeine Wohltätigkeit in Ihre Hand gelegt hat, und der Segen des Himmels wird Sie dafür lohnen.«

      Richard Bertram. R.gasse Nr. 10. im vierten Stock.

      Richard faltete und siegelte den Brief, dann schrieb er die Adresse, steckte ihn zu sich und trat in den Vorsaal.

      »Mutter«, rief er leise durch die halb geöffnete Tür in das Krankenstübchen, »ich gehe aus; in einer Viertelstunde kehre ich zurück. Achten Sie gut auf den Kranken!«

      Dann eilte er zu dem in einer benachbarten Straße liegenden Hospital, gab dort im Büro seinen Brief ab und trat den Rückweg an. Als er über den Platz schritt, den er am Morgen schon einmal betreten hatte, fuhr ein Wagen, von einer starken Reiterabteilung umgeben, an ihm vorüber. Wie gewöhnlich, liefen die Menschen zusammen und gafften dem Zug nach.

      »Was ist das?«, hörte man von allen Seiten fragen. »Das muss entweder ein sehr vornehmer oder ein sehr großer Verbrecher sein.«

      »Das ist der General B.«, antwortete ein gut gekleideter Mann, und auf seinem Gesicht sprach sich große Schadenfreude aus. »Er hat schon lange im Geheimen der Krone entgegengearbeitet, indem er unter seinen Soldaten den sogenannten demokratischen Geist zu verbreiten suchte und die Unglücklichen dahin brachte, dass sie ihrem Eid untreu wurden und in den Reihen des aufrührerischen Volkes die Stadt gegen das Militär verteidigten. Schade, dass man so viele Umstände mit dem Verräter macht und ihn nicht gleich an dem ersten besten Baum aufhängt oder niederschießt wie die Schufte von Soldaten. Nur Geduld«, fügte der gut gekleidete und gut genährte Mann hinzu, »es wird schon noch besser kommen!«

      »Wer ist dieser Mann?«, fragte Richard einen neben ihm Stehenden.

      »Der Mann ist eigentlich nichts«, war die Antwort; »aber wenn Sie einen Menschen, der sich durch unerhörte Schwindeleien und Prellereien zehn bis zwölf Häuser in der R.gasse zu verschaffen wusste, für etwas gelten lassen wollen, dann ist er der Hausbesitzer S.«

      »Also mein Hausherr«, murmelte der junge Mann. »Es war höchste Zeit, mich um ein anderes Obdach für meine Mutter zu kümmern, denn dieser Freund gesetzlicher Ordnung wird uns sicher mithilfe der Gesetze auf die Straße werfen lassen; es wäre vielleicht schon längst geschehen, wenn man die alte, gute Ordnung früher wieder eingeführt hätte.«

      Traurig kehrte Richard in seine Wohnung zurück, denn alles, was er gehört und gesehen hatte, trug dazu bei, seinen Lebensüberdruss zu vermehren. Die Nacht verbrachte er am Krankenbett des blinden Greises, dessen Zustand mit jeder Stunde bedenklicher wurde. Wilibald klagte nicht, es sprach sich sogar eine ruhige Heiterkeit in seinen Zügen aus, die eher eine baldige Genesung als den Tod vermuten ließ.

      Mit dem Anbruch des Morgens erwachte der Kranke aus einem unruhigen Schlummer. Als er Richards Anwesenheit im Zimmer bemerkte, fragte er, was er noch nie getan hatte, nach Nachrichten über den Stand der Dinge in der Stadt. Der junge Mann berichtete, was er wusste. Schweigend und mit geschlossenen Augen hörte Wilibald der Erzählung zu, die, obgleich sie alles mit lebhaften Farben schilderte, dennoch keinen Eindruck auf den Hörer hervorzubringen vermochte. Als Richard aber von der Belohnung sprach, die man dem Denunzianten des Verfassers des Libells zusicherte, und von der Gefangennahme des Generals B., hob er leise die verschlungenen Hände empor, als ob er einen Augenblick betete, und verfiel darauf wieder in seine Lethargie zurück.

      Gegen Mittag, als Frau Bertram bei dem Kranken war, erhielt Richard, der sich in seinem Zimmer befand, durch einen Boten einen Brief. Er war von dem Direktor des Hospitals und enthielt Folgendes:

       »Mein Herr! Es tut mir leid, Ihrem Wunsch für jetzt nicht genügen zu können. Fünf Stellen habe ich nur zu vergeben und mehr als fünfzig Gesuche sind eingegangen. Meine Wahl würde ebenso gut auf Ihre Mutter fallen wie auf irgendeinen andern; da es aber noch unglücklichere Personen

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