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Magd.

      »Gib!«, rief das junge Mädchen eifrig, in dem es rasch aufstand und die Papierrolle ergriff.

      »Haben Sie noch einen Auftrag für mich, Fräulein?«

      »Für heute nicht; morgen früh jedoch möchte ich um fünf Uhr geweckt werden.«

      »Soll geschehen. Gute Nacht!«

      »Gute Nacht!«

      Als ob Anna sich fürchtete, das Papier zu öffnen, blieb sie einige Augenblicke unschlüssig in der Mitte des Zimmers stehen; ein leichtes Zittern hatte ihren ganzen Körper ergriffen und die Leere in dem widerspenstigen und eigensinnigen Herzchen von vorhin schien plötzlich ausgefüllt zu sein. Langsam trat sie endlich zu dem Tisch, auf dem das Licht brannte, löste die Schleife des roten Bändchens, das um das feine Velinpapier geschlungen war, und öffnete die Rolle. Doch kaum hatte sie den Blick auf die erste Zeile geworfen, als der Schmetterling, der sich an dem Licht beide Flügel verbrannt hatte, prasselnd auf den Tisch fiel. Erschrocken bebte sie zurück und das Papier entsank ihren Händen.

      Der Sturz des unglücklichen Tieres hatte das arme Mädchen völlig außer Fassung gebracht; es bedurfte einiger Minuten, ehe die Erschrockene sich wieder erholte; dann ergriff sie abermals das Papier. Mit stets wachsender Aufmerksamkeit las sie nun die schön geschriebenen Zeilen und mehr als einmal rief sie aus: »Vortrefflich, wunderschön!« Nachdem sie das Gedicht gelesen hatte, nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein. Jetzt starrte sie aber nicht gedankenlos in das Licht, sie hatte einen reichen Stoff zum Nachdenken. Unwillkürlich stellte sie Vergleiche an zwischen den beiden jungen Männern, die an dem vor ihr liegenden Gedicht gearbeitet hatten. Leider fielen diese Vergleiche nicht zum Vorteil des Kopisten aus, so viel Kunst und Geschmack er in den Schriftzügen auch entwickelt hatte; der Dichter wurde gekrönt, Annas Herz erteilte ihm den Preis. Es ist wahr, beide Männer waren jung und schön; den Charakter des einen kannte Anna, während sie den anderen nur flüchtig gesehen und nichts als seine Armut und ein schönes Gedicht von ihm kennengelernt hatte; aber gerade die Armut an Glücksgütern und der Besitz des nicht gewöhnlichen poetischen Talentes waren es, die das Herz des zur romantischen Schwärmerei geneigten jungen Mädchens bestochen hatten.

      Je öfter Anna das Gedicht las, desto mehr poetische Schönheiten entdeckte sie darin, und wie nach und nach die schönen Buchstaben vor dem Geist der Dichtung wichen, so trat auch Franz vor Richard zurück; der Dichter, der arme schöne Dichter mit seinem genialen Kopf bildete allein den Gegenstand, mit dem sich die Gedanken des jungen Mädchens beschäftigten. Anna hatte sich in eine fremde Welt hineingeträumt, in eine Welt, die sie nie geahnt, nie gefühlt hatte. Leise, als ob sie fürchtete, ihren wachen Traum durch ein Geräusch zu unterbrechen, trat sie zum Piano und begann eine jener seltsamen Fantasien, die nur das Herz versteht. Einige Akkorde, durch den Dämpfer des melodiösen Instrumentes zu einem zitternden Hauch gemäßigt, deuteten an, dass die Nacht herabsinkt; das Geräusch des Tages entschwindet nach und nach, Dunkelheit breitet sich über der Erde aus und eine geheimnisvolle Ruhe, nur von dem Gemurmel eines Baches unterbrochen, umfängt das All. In dieser hehren Stille erhebt plötzlich ein unbekannter Vogel seinen wunderbar lieblichen Gesang – es ist die Nachtigall nicht, die durch die Nacht flötet, es ist ein Vöglein, das in dem Herzen Annas gleich einem Widerhall himmlischer Melodien singt und »Hoffnung und Liebe« flüstert und erweckt.

      Mitternacht war längst vorüber, als die Natur ihren Zoll forderte und Müdigkeit die Jungfrau veranlasste, ihr Bett aufzusuchen. Als ob der Geist, sobald er durch den Schlaf vom Körper und der Welt losgelöst war, den im wachen Zustand begonnenen Traum wahrer und schöner fortsetzen wollte, befand sich Anna in einem reizenden, von duftenden Blumen und bunt gefiederten Vögeln angefüllten Garten, sobald sie die müden Augen geschlossen hatte. Aber seltsamerweise war diesmal der Duft der Blumen eine Sprache, der Gesang der Vögel wohlklingende Worte, die sie vollkommen verstand und nicht etwa durch Anschauung, wie auf der Erde, sondern durch die größte Vollkommenheit der Organisation, denn ein hehres Gefühl sagte ihr, dass sie im Himmel war. Plötzlich, ohne dass sie ihn hatte nahen sehen, befand sich Anna an Richards Arm; sie fühlte aber weder seinen Arm noch seinen Körper, nur der Sinn des Gesichts konnte ihn wahrnehmen. Mit unendlicher Zärtlichkeit richtete Richard seine Blicke auf sie, und Anna bemerkte, dass sie sich in seinen Augen sehen konnte wie in einem Spiegel. Ein Gefühl voll unbeschreiblicher Seligkeit durchbebte das ganze Wesen der Jungfrau; die Erde war versunken und das Paradies der Liebe hatte sich gestaltet. Ihre Blicke vermochten durch alle Baumgruppen, zwischen denen sie wandelte, zu dringen; sie sah jenseits derselben noch andere Bäume, noch andere Beete reizender Blumen – alle Gegenstände waren durchsichtig. Man hätte sagen können, dass der Garten nur immaterielle Wesen enthalte, denen, trotz der Durchsichtigkeit, ihre irdische Form geblieben war.

      Dann auf einmal erschien es dem jungen Mädchen, als ob eine verschleierte Frau, die den Gang der verstorbenen Mutter hatte, auf sie zukäme. Je näher die Frau kam, desto mehr wurde Anna in ihrer Vermutung bestärkt. Ein weißes Kleid, das einen milden Glanz ausströmte, verhüllte die Erscheinung, die durch die Stämme der Bäume und Zweige der Gesträuche immer näher heranschwebte. Als sie so nahe war, dass sich Anna und Richard in dem Lichtkreis befanden, sah die Jungfrau dem Geliebten noch einmal ins Antlitz. Da las sie die Seele in den sanft leuchtenden Augen des schönen jungen Mannes, und eine Stimme erklang in ihrem Innern: Er liebt dich! Als sie die Blicke wieder auf die Erscheinung warf, erkannte sie durch die Falten des Schleiers die Züge der Mutter.

      »Mutter, Mutter!«, rief Anna und streckte die Arme nach dem Schatten aus.

      Dieser erhob, als ob er das junge Paar segnete, die Hände, dann verschwand er. Anna sank in die Arme Richards zurück, der sich neben ihr auf ein Knie niedergelassen hatte. Einige Augenblicke hatte sie mit dem Haupt an Richards Brust geruht, als plötzlich alles verschwunden war: Erwacht lag sie in ihrem Bett. Durch die Vorhänge des Fensters strahlte der junge Morgen herein und an der Tür ließ sich ein leises Klopfen vernehmen – es war die Magd, die ihre junge Gebieterin weckte.

      Während der greise Wilibald in seinem Dachstübchen arbeitete, während Frau Bertram durch Richards Pflege nach und nach genas und während Anna ihre menschenfreundlichen Besuche, aber stets nur in Begleitung einer anderen Dame des Vereins, fortsetzte, traten in den übrigen Ländern Europas jene großen Ereignisse ein, die das Jahr 1848 zu einem der denkwürdigsten der Geschichte erheben.

      Im Haus des Herrn Hubertus war der Geschäftsgang nicht unterbrochen worden; Franz und Kaleb, denen immer noch die Leitung des Geschäfts allein oblag, da der Fabrikherr nur langsam genas, setzten ihre Arbeit mit Umsicht und Ausdauer kraftvoll fort und vermieden sorgfältig, dass der kranke Chef betrübende Nachrichten in Erfahrung brachte. Sooft ein neuer Bericht von der Erhebung der Völker einlief, hatte Franz die Ausbrüche von Kalebs Zorn zu erdulden; der junge Mann aber, der sich bei allen politischen Sachen stets indifferent verhielt, obgleich er als Kaufmann im Grunde seiner Seele nichts weniger als demokratisch gesinnt war, suchte stets den aufgebrachten Alten durch die Hoffnung auf den Sieg der Regierungen zu besänftigen, und so kam es, dass ein politischer Meinungsstreit unter den beiden Männern nie entstehen konnte. Wie hätte Franz auch Zeit haben können, sich um Politik zu kümmern; seine Bücher und vor allen Dingen seine Liebe nahmen Geist und Herz vollkommen in Anspruch; ihm war es gleichviel, ob der Mann, der ihm den Schutz der Gesetze gegen Eingriffe in seine Rechte garantierte, eine Krone oder eine Bürgermütze auf dem Haupt trug; er wollte die Sache, aber nicht die Form.

      Anna, in deren Herzen die Liebe für den jungen Dichter immer mehr Wurzel fasste, sah den ihr bestimmten Bräutigam täglich nur einmal, und zwar bei Tisch. Da sich das Gespräch größtenteils nur um Geschäftsangelegenheiten drehte und das junge Mädchen – wie wohl erklärlich ist – jede Berührung ihrer Herzensangelegenheit sorgfältig vermied, so hatte Franz selten Zeit, ein vertrautes Wort mit seiner Braut zu wechseln, und fügte es der Zufall, geschah es vonseiten des jungen Mädchens mit einer Vorsicht und Delikatesse, dass der arme Kommis von einem Nebenbuhler keine Ahnung bekam. So viel war Anna indes klar geworden, dass Franz nicht der Mann ihres Herzens war, und wenn sie sich auch die Liebe zu Richard, den sie nur einige Male flüchtig wiedergesehen hatte – das Gedicht hatte die Magd von Wilibald abgeholt –, nicht zu gestehen wagte, so drängte sich ihr doch immer unwillkürlich ein Vergleich

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