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Wilhelm nach einer Viertelstunde nach Hause ging, hatte er ungewollt einen der wenigen Streits zwischen Agnes und Johannes vom Zaun gebrochen, die wirklich diese Bezeichnung verdienten, und es stand jetzt schon fest, daß sie an diesen selbst dann noch denken würden, wenn die Erinnerung die unangenehmen Dinge des Lebens weitgehend gestrichen hatte: In der Küche stand einsam Johannes, mit zorniger Miene zunächst; nach einer Weile setzte er sich, sein Gesichtsausdruck war immer noch sehr ernst, bis er sich dann ganz allmählich entspannte und schließlich sogar Platz ließ für ein stilles, nach innen gekehrtes Lächeln, das von niemandem gehört zu werden brauchte, weil es nur eine vollkommene Zufriedenheit ausdrückte, von der der eben noch so wütende Mann trotz aller Wirren um ihn herum plötzlich erfüllt war. Und zu verdanken hatte er dieses wohlige Gefühl natürlich niemand anderem als seiner Frau: Wie sehr hatte sie ihm heute abend den Kopf gewaschen!

      Wie mit einem Schuljungen war sie mit ihm umgesprungen, und, je mehr Johannes nachdachte, so kam er immer deutlicher zu dem Ergebnis, daß sie – wie so oft – recht gehabt hatte. Er wäre tatsächlich kein guter Vater gewesen, vom Ehemann ganz zu schweigen, wenn er trotz Wilhelms Warnung zu Vollmer gefahren wäre. Wenn der tatsächlich eine Reihe von SA-Männern zusammenbestellt hatte, um ihn zu verprügeln, und es bestand kein Grund, an Wilhelms Worten zu zweifeln, dann mußte Johannes notgedrungen den kürzeren ziehen, und es war eigentlich Unsinn gewesen, wenn er sich nun, wo schon die Sachargumente nicht mehr zählten, allein auf seinen stattlichen Körperbau verlassen wollte.

      Sicher, bei Prügeleien hatte er früher meist die Oberhand behalten, doch waren, wie Agnes natürlich richtig bemerkt hatte, seither Generationen vergangen, und Johannes, den sie damit eben noch bis ins Mark getroffen hatte, war heute nun wirklich fast ein alter Mann. Die Familie hatte an erster Stelle zu stehen, das hatte ihm Agnes eben klar gemacht, und wenn so ein sturer Basaltbrocken, wie er das ihrer Ansicht nach war, dies partout nicht begreifen wollte, dann mußte man ihm eben kräftig die Leviten lesen!

      Trotz oder gerade wegen der Auseinandersetzung mit Agnes war Johannes von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt: Niemals hätte er es als junger Mann, dem die Schande anhing, die der Vater über die Familie gebrachte hatte, auch nur in seinen kühnsten Träumen gewagt, sich eine solche Frau auch nur zu wünschen: heute hatte er sie, hatte mit ihr zwei wohlgeratene Kinder und wollte das alles aufs Spiel setzen, nur um einem Menschen wie Vollmer zu zeigen, daß er kein Feigling war!

      Und so gab er seiner wunderbaren Agnes im nachhinein, still natürlich, ohne daß sie jemals davon erfahren hätte, die Einwilligung, die er ihr vor wenigen Minuten noch versagt hatte, nämlich – das Bürgermeisteramt hatte damals noch kein eigenes Telefon – zur Post zu gehen, Vollmer anzurufen und ihm zu sagen, ihr Mann sei mit dem Fahrrad gestürzt und könne heute abend nicht kommen, genauso wie sie es gewollt hatte und nun eben ohne seine Zustimmung tat. Was Johannes jedoch seinerseits wieder nicht wußte, war, daß sie in dem kurzen Gespräch hinzufügte, es stehe dem Ortsgruppenleiter, sofern er dies wünsche und es ihm besonders eilig sei, selbstverständlich frei, den Bürgermeister in den nächsten Tagen zu Hause aufzusuchen! Dies war schon fast verwegen, doch sollte Vollmer – da vertrat die tapfere Frau genau die gleiche Meinung wie ihr Mann – nicht denken, daß sie sich vor ihm fürchteten. Nein, sie war sich ganz sicher: der Ortsgruppenleiter würde niemals auf ihren Vorschlag eingehen, denn beim Besuch im Bürgermeisteramt konnte er ja schließlich seine Kettenhunde nicht mitnehmen!

      Doch Vollmer kam. Eines Tages, als Agnes alleine zu Hause war, stand er plötzlich in der Küche, mit gezogenem Säbel und einem Gesicht, das verriet, welche Mühe er sich machte, ihr Angst einzujagen. »Ist Ihr Mann da? Ich werde ihn jetzt verhaften, denn er hat einen Nationalsozialisten beleidigt!« schrie er sie mit seiner dünnen Fispelstimme an, wohl hoffend, daß er die kleine Frau dadurch gewaltig einschüchtern werde. Agnes jedoch blieb ihrerseits vollkommen ruhig, wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat sogar noch einen Schritt auf den Ortsgruppenleiter zu, um ihm dann nur die wenigen Sätze ins Gesicht zu schleudern: »Auch wenn Sie mit Säbel kommen, mir können Sie keine Angst einjagen. Mein Mann hat nichts Unrechtes getan, und Sie haben überhaupt kein Recht, ihn festzunehmen!« Wohl war es mehr die Entschlossenheit, mit der die kleine Frau so unerwartet auftrat, als die Tatsache, daß er plötzlich über das nachzudenken begann, was sie ihm so dreist auf den Kopf zu gesagt hatte, die Vollmer, der doch eigentlich die Überraschung auf seiner Seite geglaubt hatte, sich seiner Sache plötzlich gar nicht mehr so sicher sein ließ, ihn schließlich sogar in völlige Verwirrung versetzte, so daß er am Ende nurmehr imstande war hervorzubringen: »Ich habe doch nur einen Scherz machen wollen. Nichts für ungut.« Und dann ging er, ging ohne ein weiteres Wort, in die Flucht geschlagen von einer unbedeutenden kleinen Bäuerin: in dem Moment, als er durch die Haustür verschwunden war, spürte Agnes ein Zittern in ihren Gliedern, wie sie es nur als Kind einmal verspürt hatte, nämlich da, als sie in der Schule die Lösungen von Rechenaufgaben auf ihre Hand geschrieben und der Lehrer angekündigt hatte, er werde sie alle kontrollieren – doch war sie sich sicher, daß ihre Aufregung eben im Gegensatz zu damals, als man sie deshalb erwischt hatte, nicht nach außen gedrungen war, denn sonst wäre der Ortsgruppenleiter, der mächtige Vollmer, der doch nur gekommen war, weil er wußte, daß Johannes nicht zu Hause war, nicht so ohne weiteres vor ihr davongelaufen.

      Oft, wenn der Frühaufsteher Johannes an warmen Sommermorgen, die eigentlich noch gar nicht richtig hereingebrochen waren, die Kühe einspannte und aufs Kartoffel- oder Runkelrübenfeld fuhr, um die Pflanzen vom Unkraut zu befreien – er meinte immer ihre Freude darüber zu spüren, daß er ihnen so beim Wachsen half – dann vergaß er manchmal für einen kurzen Augenblick all das, was zur Zeit in der Welt vorsichging, genoß es, die frische, vom Tau noch feuchte Luft in die Lungen zu saugen, sah den Rehen zu, die am Waldrand ästen und sich nicht im geringsten an dem in der Ferne vorüberfahrenden Wagen störten, beobachtete manchen Fuchs, wie er nach einem Raubzug in seine Höhle schlich – einmal hatte er sogar einen Dachs beim Mausen gesehen – und ließ, wenn er spürte, daß es ihm trotz dieser Idylle nicht ganz gelingen wollte, die dunklen Wolken zu vertreiben, die momentan Zeit anscheinend sein ganzes Denken fest in ihrem Griff hatten, seine Gedanken einfach in die Vergangenheit schweifen, um sich hier die Zuversicht zu holen, die er heute oft nur vorgab zu besitzen: Er war schon ein ehrgeiziger Junge gewesen, damals, mit seinen vierzehn Jahren, als er begonnen hatte, Geld zu verdienen. Johannes mußte schmunzeln, wenn er daran dachte, wie zuversichtlich er einmal aufgebrochen war, die Welt zu erobern! Nein, er wollte sich niemals unterkriegen lassen, hatte er sich wieder und wieder gesagt, und das, was ein anderer konnte, konnte er schon lange. Und so machte ihm auch später, als er zum Mann gereift war, die schwere Arbeit unter Tage fast gar nichts aus. Wie auch? Johannes besaß schließlich einen stattlichen Körper, wog in seinen besten Zeiten gut zwei Zentner und war überzeugt, daß er es an Körperkraft sicherlich mit einem jungen Ochsen aufnehmen konnte.

      In der Grube war das allerdings ein wenig anders, da das Essen hier so gut nicht war und der Körper doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde. Johannes war aber stolz darauf, daß er die harte Arbeit so gut wegstecken konnte. Dabei hatten ihn viele vor dieser Maloche, wie sie es hier nannten, gewarnt. Menschen gingen vor die Hunde, selbst Kinder würden ausgenutzt, und was man ihm nicht noch alles gesagt hatte. Er jedenfalls hatte seinerzeit, als die Nachricht zu ihm gedrungen war, daß die großen Reviere im Ruhrgebiet nach wie vor Leute suchten, nicht gezögert, sich auf den Weg zu machen. Was hatte er auch zu verlieren? Schwester und Mutter waren tot, die eine, seine kleine Katt, wie er sie immer genannt hatte, vor ein paar Jahren fast wie ein Tier krepiert, wobei keiner wußte, ob es nun der Hunger war, der ihrem Leben letztlich ein Ende bereitet hatte, oder die Schwindsucht, gegen die sie ihrer Schwäche wegen kaum mehr anzukämpfen vermocht hatte. Es war nämlich die Zeit, als gerade die Armut bei ihnen eingezogen war und an ihrem Inneren zu nagen begonnen hatte wie ein Geschwür, das sehr wohl weiß, wann seine Zeit gekommen ist, und ganz genau gespürt hatte, daß der Familie, deren Ernährer nach seinen am Ende immer länger gewordenen Reisen schließlich ganz fortgeblieben war, damit sämtliche Grundlagen genommen waren, sich erfolgreich gegen jeglichen Angriff von außen zu wehren. Kein Wunder war es darum auch, daß – gerade mal fünfzig Jahre alt war sie geworden! – schließlich auch Mutter gestorben war: einerseits an ihrem Gram, andererseits an der Verzweiflung darüber, daß wegen der Schande, die ihr Mann über sie gebracht hatte, kaum jemand bereit gewesen war, der verarmten Familie ein wenig

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