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erhob sich und trat mit gesenktem Kopf hinter den Altar, wo eine Seekiste stand, die annähernd die Größe eines Sarges hatte. An den Ursprung dieser Kiste erinnerte sie sich nicht.

      Morena öffnete den Deckel und nahm nur das Gewand aus feuerroter Seide heraus. Sie zog es sich über die schmalen Schultern. Die anderen Utensilien brauchte sie nur, wenn sie ihrem Gebieter ein Opfer brachte – etwa den schweren Säbel, auf dessen fast handtellerbreiter Klinge sich eingetrocknete Blutstropfen befanden.

      Morena nahm Feuersteine, Zunder und Kienspan aus einer weiten Tasche ihres Gewandes und entfachte den Span geschickt mit wenigen Schlägen. Dann zündete sie die Kerzen an und atmete den Geruch des heißen Wachses genußvoll ein.

      Sie schloß das rote Seidengewand und kniete vor dem Altar nieder.

      Wieder murmelte sie diese Silben, von denen sie wußte, daß sie eine Verbindung herstellten. Wie stets gelang es ihr, sich in einen tranceartigen Zustand zu versetzen und die Signale zu empfangen, die er ihr sandte.

      Ein wohliges Gefühl, wie sie es selten verspürt hatte, erfüllte sie kurz darauf. Fast glich es einem beginnenden Rausch.

      Murmelnd hob sie den Kopf und blickte zu jener Stelle zwischen den beiden Kerzen, wo sich die warmgelben Lichtkreise vereinten. Ein goldener Schimmer entstand dort. Das Gold vereinte sich mit blutigem Rot, wie es dem glühenden Zentrum der Kerzenflammen entsprang. Aus dieser Vereinigung wurde plötzlich das Antlitz des Satans erkennbar.

      Morena erstarrte.

      Wie würde er entscheiden? Was drückte dieses Antlitz aus?

      Wohlgesonnenheit.

      Das sah sie im nächsten Moment ganz deutlich.

      Morena konnte den Blick nicht von dem Punkt der Vereinigung des Lichts lösen.

      Das freundliche Satansgesicht verschwand.

      Und plötzlich war jenes andere da, das sie schon in vagen Konturen im spiegelnden Wasser gesehen hatte. Es war nicht deutlicher diesmal und wiederum nicht einwandfrei als männlich oder weiblich zu identifizieren. Aber es war ein menschliches Gesicht. Es gehörte nicht zu einem Wesen aus dem Unergründlichen.

      Es verschwand ebenfalls nach wenigen Augenblicken.

      Morena verharrte noch minutenlang. Unbändige Freude erfüllte sie. Jetzt hatte sie die Gewißheit. Ihr Leben würde sich ändern. Ein anderer Mensch würde in ihrem Leben eine Rolle spielen. Sie wußte nur noch nicht, in welcher Form das geschehen würde.

      Langsam richtete sie sich auf, von einem innerlichen Zittern erfüllt. Es war die Aufregung, das wußte sie – die Aufregung vor dem Neuen, dem Unerwarteten.

      „Ich danke dir, mein Gebieter“, flüsterte sie mit heiserer Stimme. „Ich schwöre dir ewigen Gehorsam.“ Sie verneigte sich noch einmal tief und trat wieder hinter den Altar, wo sie das Seidengewand abstreifte.

      Das Zittern hielt an, bis sie das jenseitige Ufer des Sees erreicht hatte. Erst als sie auf den Ausgang des Felsendoms zuging, wurde sie ruhiger.

      Draußen, am Fuß des hohen, zerklüfteten Felsmassivs, blieb sie stehen und sog die frische Luft des Morgens tief in ihre Lungen. Es würde ein wunderbarer Tag werden. Leuchtend blauer Himmel wölbte sich über der Insel Kefallinia, das Ionische Meer hatte die Farbe dieses Himmels.

      Morena ging über das Geröllfeld, das einen schmalen Paß vor dem benachbarten, nordwestlich gelegenen Berg bildete. Dann benutzte sie den vertrauten Serpentinenweg, den Menschen vor Jahrhunderten in den Fels gemeißelt hatten. Der Weg war lückenhaft und gefährlich. An manchen Stellen waren große Brocken herausgebrochen, und Morena mußte den Abgrund im Sprung überwinden.

      Niemals hatte sie sich dabei unsicher gefühlt. Sie wußte, daß sie Kräfte hatte, über die normale Sterbliche nicht verfügten.

      Sie erreichte ihre Wohnhöhle, deren Eingang hundert Fuß über dem Geröllfeld lag. Aus dem Inneren der Höhle trug sie eine Kiste in den Eingang, setzte sich auf den fellbespannten Deckel und starrte auf das Meer hinaus. Nur einen Teil konnte sie wegen des benachbarten Felsens sehen. Irgendwann, sehr bald, so beschloß sie, würde sie sich einen besseren Aussichtspunkt suchen.

      Denn das, worauf sie hoffen durfte, würde sich über das Meer nähern.

      Würde es ein Mensch sein? Einer, der ihr nahe sein konnte – anders als die Bewohner des Dorfes Athakon?

      Die Dubas lag auf einem langen Kreuzschlag nach Ost-Nord-Ost. Der Wind war eher nur ein laues Lüftchen und wehte aus wechselnden nördlichen Richtungen. Der Seewolf und Ben Brighton hatten die Entwicklung des Wetters mit besorgten Mienen abzuschätzen versucht. Am frühen Morgen war der Wind noch handig und entsprechend brauchbar gewesen. Jetzt aber deutete alles auf eine bevorstehende Flaute hin.

      „Land in Sicht!“ ertönte die Stimme Bills, der als Ausguck eingesetzt war. „Land in Sicht! In Nordost!“

      Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton hoben ihre Spektive.

      Der Zweimaster lief fast genau auf das zu, was Bill als Land bezeichnet hatte.

      „Da hat irgendein Riese seinen faulen Backenzahn verloren“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn, der sich zu diesem Zeitpunkt auf der Back befand, wo er eine „Windprobe“ hatte vornehmen wollen. Dank seiner besonderen Kenntnisse, so hatte er kundgetan, würde er zu einer genauen Vorhersage fähig sein.

      Flaute oder nicht Flaute – die Arwenacks sollten es in Kürze aus seinem Munde erfahren.

      Es störte den Alten dabei wenig, daß keiner von ihnen offenbar gesteigerten Wert auf seine Prophezeiungen legte. Er kannte das. Immer wenn er etwas Fundamentales mitzuteilen hatte, mimten sie die Desinteressierten. Es konnte nur ihr Neid sein.

      Jetzt plötzlich war die „Windprobe“ aus seinen Gedanken wie weggewischt.

      Er stützte sich mit beiden Händen auf die vordere Balustrade und starrte nach Nordosten.

      Unvermittelt wandte er sich ab. Sein Holzbein schlug hart auf die Planken, als er an die achtere Balustrade der Back trat.

      „Dan!“ brüllte er.

      Die Männer an Deck drehten sich erstaunt zu ihm um.

      Dan O’Flynn, der eben über den Niedergang zum Achterdeck aufentern wollte, reagierte nicht minder erstaunt. In diesem barschen Befehlston hatte ihn der Alte nicht mehr angefahren, seit er ein Jüngling gewesen war.

      „Dan, verdammt noch mal!“ herrschte der Alte seinen Sohn an. „Habe ich dich gerufen oder nicht? Erzähle mir nicht, daß du Bohnen in den Ohren hast!“

      Dan blinzelte verdattert.

      „Ich habe dich deutlich gehört!“ rief er über das Hauptdeck. „Aber ich denke nicht daran …“

      „Dann komm endlich her!“ schrie Old Donegal, und seine Stimme schrillte dabei. „Hölle und Teufel, ich sag nicht gern alles zweimal!“

      Das Erstaunen der Arwenacks schlug in Verblüffung um. So verbissen hatten sie den alten Zausel seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Vor allem seinem Sohn gegenüber nicht.

      Seit er Mary Snugglemouse geehelicht hatte, war er insgesamt eher lammfromm geworden. Seltener polterte und tobte er herum, wie er es in früheren Jahren oft getan hatte. Manchmal hatten die Männer auch den Eindruck, daß er sich nach Mary und seinem Nachwuchs sehnte. Aber das würde er natürlich niemals offen zugeben.

      Dan O’Flynn wechselte einen fassungslosen Blick mit Hasard.

      „Geh schon“, sagte der Seewolf milde lächelnd. „Vielleicht ist ihm die Windprobe zu Kopf gestiegen.“

      „Die was?“

      Dan hatte es nicht mitgekriegt, da er in seiner Kammer über den Karten gebrütet hatte. Das Ergebnis seiner navigatorischen Berechnungen wollte er dem Seewolf und dem Ersten Offizier mitteilen.

      Hasard erklärte ihm, welche Absichten Old Donegal zur allgemeinen Erheiterung angekündigt hätte.

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