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dem Schilfdickicht, kaum mehr als einen Steinwurf weit entfernt, glitt etwas heran, das die Wasseroberfläche zunächst nur wie ein Strich zu teilen schien. Dann aber, bei näherem Hinsehen, wurde die schuppige Oberfläche erschreckend deutlich.

      „Ein Alligator!“ schrie Philip junior entsetzt.

      Die Männer an Deck verstummten.

      Bevor auch nur einer von ihnen reagieren konnte, sprang Tamao vom Niedergang auf die Planken der Kuhl, federte auf die Steuerbordverschanzung und schnellte mit einem flachen Hechtsprung außenbords.

      Die Zwillinge und auch die Arwenacks hielten den Atem an.

      Plymmie, die die Gefahr zu ahnen schien, strampelte sich heftiger im Wasser ab und gelangte doch nur quälend langsam voran.

      Zwei, drei Yards von ihr entfernt tauchte Tamao ein.

      Teuflisch schnell schmolz die Distanz zu dem gefräßigen Raubtier zusammen. Schon waren die gelben Augen knapp über der Wasseroberfläche zu erkennen.

      Tamao mußte unter Wasser gewendet haben, denn jetzt tauchte er haargenau neben Plymmie auf. Die Männer an Bord hörten, wie er ihr in seiner Muttersprache gut zuredete. Und dann ließ die Hündin es gesehenen, daß er den linken Arm um ihren Leib legte und sie mit sich fortzog, indem er in Rückenlage schwamm.

      Der Alligator war nur noch zehn Yards entfernt, ebenso groß war auch die Entfernung, die Tamao noch bis zur Bordwand der „Isabella“ zurücklegen mußte. Doch es sah ganz danach aus, als sei das Untier schneller.

      „Er schafft es nicht!“ schrie Philip junior verzweifelt. „Will denn keiner etwas tun?“

      „Reg dich ab, Junge“, sagte Mac Pellew und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Mit einer knappen Handbewegung deutete er zur Kuhl.

      Big Old Shane und Batuti, die sich eilends und fast unbemerkt abgesondert hatten, stürmten in diesem Moment aus den unteren Decksräumen herbei. Beide Männer waren mit einer schußbereiten Muskete ausgerüstet. Die anderen wichen am Schanzkleid auseinander, und Shane und der riesenhafte Gambianeger hatten Platz zum Anvisieren. Die Läufe ihrer Musketen folgten der Bewegung des Alligators.

      Tamaos Vorsprung war bereits auf fünf Yards zusammengeschmolzen.

      Fast im selben Sekundenbruchteil zuckten die Feuerblitze aus den beiden Musketenläufen. Das Krachen der Schüsse klang wie ein einziger Donnerschlag. Pulverrauch breitete sich aus und waberte als träge Wolke in der Luftfeuchtigkeit hoch.

      Beide Kugeln mußten getroffen haben. Die Riesenechse krümmte sich, und ihr mächtiger Schuppenschwanz peitschte das Wasser. Blut breitete sich aus, das riesige Maul des Alligators mit den furchteinflößenden Zähnen öffnete und schloß sich krampfartig in harten Schlägen. Der Leib der Echse zuckte und wand sich, die helle Unterseite wurde sichtbar, aber dennoch schien der Todeskampf nicht enden zu wollen.

      Doch Tamao und sein vierbeiniger Schützling waren den mörderischen Zähnen entgangen. Luke Morgan war bereits abgeentert und nahm die triefendnasse Plymmie am Fuß der Jakobsleiter entgegen. Mit katzenhafter Gewandtheit folgte ihm der Indianerjunge. Dann, als er die Kuhl erreichte, senkte er verlegen den Kopf, denn die Männer empfingen ihn mit begeistertem Beifallsgebrüll.

      Plymmie schüttelte sich, daß die Tropfen flogen. Mit einem freudigen Schwanzwedeln begrüßte sie die Zwillinge, die freudestrahlend auf Tamao zuliefen. Dem jungen Timucua fehlte es an spanischen Worten, um den Dank abzuwehren, mit dem die Söhne des Seewolfs ihn überhäuften. Und auch von den Männern der Crew erntete er reihenweise Schulterklopfen, ehe er zu Asiaga in die Krankenkammer zurückkehren konnte.

      Außenbords war es mittlerweile ruhig geworden. Der Alligator trieb reglos unter der Wasseroberfläche, die helle Bauchseite nach oben gekehrt.

      Kurze Zeit nach dem Zwischenfall begab sich der Seewolf in die Krankenkammer.

      „Das war großartig“, sagte Hasard auf spanisch. „Du hast unseren Bordhund gerettet, Tamao. Dafür danke ich dir. Plymmie ist als Crewmitglied nämlich nicht zu verachten. Sie hat schon manches Mal eine Gefahr gewittert und Alarm geschlagen, bevor wir auch nur etwas ahnten.“

      Am Gesichtsausdruck des jungen Timucua war zu erkennen, daß er jedes Wort verstand. Er wandte sich von Asiaga ab, die noch immer tief und fest schlief.

      „Plymmie ist guter Hund“, sagte Tamao, offensichtlich froh, daß das Thema von der eigentlichen Sache, seiner vielgelobten Tat, abgelenkt wurde.

      „Ich muß ein wenig mit dir reden“, sagte Hasard und zog sich einen Schemel heran. „Ich möchte gern mehr über deinen Stamm erfahren, Tamao. Bist du sicher, daß die Timucua wirklich aus ihrer Knechtschaft befreit werden wollen?“

      Die Söhne des Seewolfs hörten aufmerksam zu, als Tamao antwortete. Das, worüber er berichtete, war eine fremde Welt, von der die beiden Jungen noch niemals etwas gehört oder gesehen hatten.

      „Ganz sicher“, erwiderte Tamao mit bekräftigendem Nicken, „mein Volk auf Rettung hoffen. Wollen alles tun, wenn nur gerettet werden. Große Dankbarkeit bei Timucua, wenn Rettung kommt. Spanier sind schlimm, aber Moskitos noch schlimmer. Bringen Krankheit und Tod über Volk der Timucua.“

      Hasard horchte auf.

      „Dann wollen deine Leute vor allem wegen des Fiebers fort?“

      „Si, Señor. Krankheit tötet. Spanier quälen nur, töten aber nicht, weil brauchen Timucua für Arbeit. Asiaga und Tamao geflohen vor Fieber, aber Schicksal war gegen Asiaga.“

      „Und deine Stammesbrüder und -schwestern?“ fragte Hasard. „Waren sie mit eurer Flucht einverstanden?“

      „Si, si, Señor. Timucua warten auf Asiaga und Tamao, daß mit Hilfe zurückkehren. Timucua wollen erlöst sein von schwerer Krankheit.“

      Einen Moment sah der Seewolf den Jungen nachdenklich an. Diese Menschen, von denen er berichtete, litten also nicht allein unter der tyrannischen Herrschaft der Spanier. Nein, es war vielmehr die feindliche Umwelt, die sie zur Hoffnungslosigkeit verdammte. Denn aus eigener Kraft waren sie zweifellos nicht imstande, sich nach einem besseren Lebensraum umzusehen.

      Die Indianerstämme in der Neuen Welt waren samt und sonders keine Seefahrer. Das traf ohne Frage auch auf die Timucua zu. Der Seeweg schied für sie aus. Das tückische Fieber hatte die meisten von ihnen schon derart geschwächt, daß es ihnen nicht mehr gelingen würde, die lebensbedrohende Umgebung auf einem langen Marsch zu Lande zu verlassen. Ohnedies wäre ihnen letzteres von den Spaniern wohl kaum erlaubt worden.

      Es war ein Teufelskreis, der sich um das Volk der Timucua geschlossen hatte.

      „Tamao, ich will dir erklären, warum meine Männer und ich hier sind“, sagte Hasard. „Wir selbst haben unsere Heimat verlassen, weil wir dort nicht mehr leben mochten. Aber uns fiel das leicht, denn wir sind Seefahrer. Wir konnten uns überall auf der Welt umsehen, bis wir einen geeigneten Platz fanden.“

      „Heimat“, sagte Tamao, „was ist das?“

      „Das Land oder der Ort, wo man zu Hause ist. Einen Menschen zieht es immer dorthin zurück. Manchmal allerdings findet man eine neue Heimat, ein besseres Zuhause.“

      Ein Leuchten glitt über das Gesicht des Jungen.

      „Ihr habt besseres Heimat gefunden, Señor?“

      „So ist es, Tamao, eine Insel in der Karibik, wir nennen sie die Schlangeninsel. Die Insel gehört unseren Freunden und uns allein. Wir haben unser Leben in Freiheit dort so eingerichtet, wie wir es für richtig halten. Niemand wird unterdrückt oder gar geknechtet, jeder wird gefragt, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Aber wir sind noch nicht fertig damit, uns endgültig auf der Insel einzurichten. Damit wir unabhängig leben können, müssen wir uns auch selbst versorgen. Dazu wollen wir eine Nachbarinsel als Versorgungsinsel einrichten. Plantagen und Felder sollen dort entstehen. Aber wir brauchen Menschen, die diese Felder bestellen. Wir suchen Männer und Frauen, Familien, die uns, begleiten möchten.“

      Tränen

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