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      Er tat es nicht. Ungehindert gelangte sie an ihm vorbei. Kein Zweifel mehr, er hatte sie wohl aus Sir Freemonts Haus treten sehen, aber er hielt sie für eine Patientin, wahrscheinlich für einen jener armen Schlucker, die die Hilfe des Arztes in Naturalien bezahlten. Sir Freemont hatte viele solche Patienten, aber von den meisten verlangte er nichts.

      Gwen erreichte den Hafenarm Stonehouse Mill Pond, der mit der North Road parallel lief. Sie gedachte, sich hier länger als eine Stunde aufzuhalten, und sie rechnete damit, daß der Posten in der Zwischenzeit abgelöst wurde. Der neue Posten wußte dann nichts von einer humpelnden alten Marktfrau, so daß sie getrost in das Haus zurückkehren konnte.

      Gwen schöpfte wieder tief Luft. Mit dem kleinen Ausflug zu abendlicher Stunde verband sich in ihrem Inneren auch ein erleichtertes Aufatmen. Es mochte an der Stille liegen, die sie umgab, oder an der guten Luft oder auch an der Tatsache, daß sie nicht belästigt worden war, jedenfalls fiel ihr endgültig ein Stein vom Herzen.

      Sie schritt am Wasser auf und ab und dachte dabei an Hasard. Er besaß schier unglaubliche körperliche Widerstandskräfte. Die Natur eines Bären. Nach Aussage von Sir Freemont hatte er es also in erster Linie sich selbst zu verdanken, daß er den komplizierten Schädelbruch so gut überstanden hatte. Hasard war wieder energiegeladen, er fieberte der Rückkehr Dan O’Flynns entgegen.

      Alles schien sich zum Guten zu wenden.

      2.

      Der Besitzer des Mietstalles hatte keine Einwände gehabt, ihre Pferde unterzustellen, zumal Dan O’Flynn ihm eine Münze als Vorschuß in die Hand gedrückt hatte. Dan und Bob Grey verließen den Stall und wanderten auf Plymouth zu. Der Bau blieb hinter ihnen zurück und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Er lag etwas außerhalb der Stadt, jedoch am nördlichen Rand, so daß sie es zur North Road nicht weit hatten.

      „Wieso sind wir eigentlich nicht direkt zu Sir Freemont geritten?“ fragte Bob. Er war ein drahtiger Mann, blond, braunäugig, flink mit dem Messer und eigentlich auch geistig sehr gewandt.

      Aber jetzt blickte Dan ihn verblüfft von der Seite an. „Sag mal, willst du Buck den Rang ablaufen?“ Buck Buchanan, auch einer der ehemaligen Karibik-Piraten an Bord der „Isabella“, gehörte ganz gewiß nicht zu den Schnellmerkern. „Es wäre Wahnsinn, dort mit den Pferden aufzukreuzen“, fuhr Dan fort. „Wir würden viel zu viel Aufsehen erregen. Nein, wir müssen schleichen.“

      „Wegen Burton und Keymis?“

      „Aha, jetzt fällt der Penny.“

      „Kleiner, hör auf zu unken. Ich dachte, die Hunde von Friedensrichtern hätten es allmählich aufgegeben, das Haus zu beschatten.“

      „Denken ist nicht wissen.“

      „Was du nicht sagst ...“

      „Ich habe bereits mit einem der Geheimposten von Burton einen Zusammenstoß gehabt, habe ich dir das nicht erzählt?“

      Bob grinste. „Ja, das war, als du aufbrachst, um nach uns zu suchen. Und für den Kerl ging die Sache tödlich aus. Burton wird deswegen getobt haben.“

      „Das glaube ich auch. Und wir müssen verdammt aufpasen.“

      „Darum bin ich zu deinem persönlichen Schutz mit hierher geschickt worden, Dan.“

      „Und darum haben wir die Gäule im Mietstall zurückgelassen“, entgegnete Dan und grinste wie ein Teufel. Während sie auf ihr Ziel zumarschierten, griff er noch einmal in die Tasche und tastete nach dem Beutel mit den Perlen und dem goldenen Tukan. Ben Brighton hatte ihm beides mitgegeben, und er, Dan, würde sich notfalls mit Händen und Füßen dagegen wehren, daß man ihm auch nur eine Perle abnahm.

      Einmal hatte Sir Freemont ja bereits Bezahlung abgelehnt. Aber wenn er auch auf diesem Prinzip beharrte, so konnten doch Hasard und Gwen Zahlungsmittel benötigen.

      Der goldene Tukan stammte aus dem Privatschatz des spanischen Vizekönigs in Lima. Verschlungene Wege hatten den Seewolf und seine Männer zu den legendären Guano-Inseln vor der Küste von Peru geführt. Dort hatten sie die Schatzkisten jenen armen Irren abgenommen, die ihn dorthin verschleppt und bitter dafür gebüßt hatten – mit dem Leben. Miguel Casias, der Wirt des „Gabian Feroce“, Antonio Savedra, Marcos Chocano, Esteban Pereda und Eloy Campoamor hatten diese Banditen geheißen – aber das Ganze lag lange zurück und schien fast schon einer Art Geschichtsepoche anzugehören, in unerreichbare Ferne gerückt und beinahe vergessen. Viele Abenteuer hatten die Männer der „Isabella“ seither unter ihrem Seewolf durchgestanden. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der Alten und Neuen Welt waren so mannigfach, daß viele Einzelheiten inzwischen ihrem Gedächtnis verlorengingen. Und dann war da die Gegenwart – die harte Wirklichkeit, die ihnen höchste Konzentration und ständige Einsatzbereitschaft abverlangte und keine Schwärmereien über die Vergangenheit zuließ.

      Endlich daheim in England! Der Schatz war in Sicherheit!

      Oh, das waren Träume gewesen, wie sie inzwischen hatten feststellen müssen. Und die Erkenntnis hatte einen gallebitteren Beigeschmack, denn alles hätte die Seewolf-Crew erwartet, nur diesen Empfang nicht. Baldwin Keymis und Samuel Taylor Burton waren heimtückische Schakale auf ihrer Spur, Sir John Killigrew nicht weniger als das, obwohl er auf eigene Faust vorging und mit den Burtons nichts zu schaffen haben wollte, da die beiden Sippen seit Menschengedenken in Fehde lagen.

      Ziel beider Parteien war es, den Schatz von der „Isabella“ zu rauben und dem Seewolf samt seiner Mannschaft den Garaus zu bereiten. Endlich war es gelungen, die Feinde zumindest vorübergehend abzuwimmeln, da hatte sich ein neuer Widersacher eingestellt. Er hieß Crocker, war ein Bulle von Kerl und Anführer einer Bande von Strandräubern, die schon seit einiger Zeit die Bewohner von Cornwall in Atem hielt.

      Ed Carberry war in der Schenke „Bude Bay“ in Bude als Oberhaupt der Strandräuberbande bezichtigt worden, und das hatte natürlich eine wüste Keilerei zur Folge gehabt. Dan, noch auf der Suche nach der in einer Bucht der Bude-River-Mündung ankernden „Isabella“, war zufällig vorbeigeritten und hatte in den Kampf eingegriffen. Die Crew hatte gesiegt, doch später waren zwei von Crockers Galgenvögeln auf ihren Fersen gewesen, als sie zu ihrer Galeone zurückkehrten.

      Als Dan O’Flynn wieder aufgebrochen war, hatten Crocker und seine Kerle ihn abgefangen und gefoltert. Dan hatte schon den für Gwen Killigrew bestimmten Perlensack und den als Geschenk für Sir Freemont ausgewählten goldenen Tukan bei sich getragen. Crocker hatte herauskriegen wollen, ob sich noch mehr Reichtümer an Bord der „Isabella“ befanden, aber Dan O’Flynn hatte eisern geschwiegen.

      Wenn ihn nicht Arwenack, der Schimpansenjunge, entdeckt hätte, wäre es wahrscheinlich mit ihm aus gewesen. So aber rief der Affe die Crew auf den Plan, und dann wurde die Räuberhöhle ausgehoben. Crokker hatte mit Dans Pferd fliehen können. Er besaß weitere Schlupfwinkel, seine Bande war längst noch nicht zerschlagen.

      Das war England! Kaum hatten sie sich eines aus dem Dunkel zuschlagenden Feindes erwehrt, war ein anderer zur Stelle. Irgendwie hatten sich Hasards Männer Hoffnungen hingegeben, im Heimatland wären sie sicher, aber auch diese Illusion hatten sie ausräumen müssen.

      Tausend Gefahren hatten sie getrotzt, aber hier standen sie Feinden gegenüber, die erheblich tückischer waren als jeder Gegner zur See. Ein Lichtblick bei der ganzen Sache war nur, daß sich Bootsmann Sullivan von der Kriegskaravelle „War Song“ offen gegen Sir John gestellt hatte, nachdem er herausgefunden hatte, welche eigennützigen Ziele dieser verfolgte. Wenigstens Sullivan stand also auf ihrer Seite, wenn sie auch nicht mit ihm rechnen konnten. Der Himmel mochte wissen, wo er nach den letzten Auseinandersetzungen mit Sir John steckte.

      Dan streckte die Hand aus. „Wir sind gleich da, Bob.“

      „Gut. Hasard wird warten.“

      Häuser wuchsen aus der Dunkelheit vor ihnen empor, sie waren schemenhafte Schatten vor dem etwas helleren Nachthimmel. Der Stonehouse Mill Pond war nicht fern, und die beiden Männer konnten das Meer riechen. Dan erkannte das Gebäude von Sir Abraham Anthony Freemont.

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