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ändert nichts. Am besten nehmen wir den armen Kerl gleich mit nach unten und begraben ihn.“

      „Begraben? Meinst du nicht, daß er eine Seebestattung verdient hat? Schließlich war er ebenso Seemann wie wir alle.“

      „Sicher“, sagte Hasard und preßte die Lippen zusammen. Auch seine Augen waren jetzt feucht. Die Vorstellung, die Sprüche und das Gezeter des munteren roten Burschen missen zu müssen, war einfach unerträglich. „Mister O’Flynn wird nichts dagegen haben, wenn wir Sir John einen würdigen Abschied von dieser Welt bereiten.“

      „Der alte O’Flynn?“ Philip schniefte. „Der wird doch froh sein! Du kennst ihn!“

      Hasard nickte bedächtig und mit Leichenbittermiene. Er hob den reglosen Papagei aus der Kiste, legte ihn in eine Felsmulde und half seinem Bruder die Kiste wieder zu verschließen und zurück in den Hohlraum zwischen den Goldkisten zu schieben. Sie wandten sich um, bereit, sich ihrer traurigen Pflicht zu entledigen.

      Es war, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.

      Die Mulde, in der sie Sir John zur vorübergehenden Ruhe gebettet hatten, war leer.

      Fassungslos sahen sie sich um und suchten mit Blicken jeden Quadratinch ab. Doch die Laterne erhellte nur einen kleinen Teil der Grotte.

      Ein Krächzen ließ die Jungen zusammenzucken. Es klang wie ein Räuspern.

      „Affenärsche!“ tönte es im nächsten Moment schnarrend aus dem dunklen Teil der Grotte. „Haut in Streifen! Rrrrübenschweine! Backbrassen!“ Es folgte ein Meckern, das wie von einem Ziegenbock klang, aber zweifellos von Old Donegal stammte. Sein triumphierendes Meckern nach dem Untergang der kleinen Jolle der „San Jacinto“ mußte bis hier herauf zu hören gewesen sein – durch einen geschlossenen Kistendeckel hindurch.

      Hasard und Philip wechselten einen entgeisterten Blick.

      „Dieser schlitzohrige Geier!“ zischte Hasard. „Weißt du, was der mit uns gemacht hat?“

      „Klar“, antwortete Philip. „Dieses Suppenhuhn hat sich tot gestellt und uns an der Nase herumgeführt.“

      Wie zur Bestätigung endete das Meckern in der Dunkelheit, und ein plötzliches Flügelklatschen war zu hören.

      Segelnd schwebte Sir John im nächsten Moment aus der Finsternis und landete mit elegantem Schwung hoch oben auf dem Stapel der Goldkisten. Dort trippelte er bis an den Kistenrand, beugte sich vor, legte den Kopf schief und blickte interessiert mit einem Auge auf die Jungen hinunter.

      Ein tiefes Rollen drang aus dem nun aufgeplusterten Leib des Aras. Er ging in einen energischen Befehlston über.

      „Klar Deck überall!“

      Abermals sahen die Jungen sich an. Sie brauchten es nicht auszusprechen: Wenn Old Donegal mitkriegte, was sich hier abspielte, würde er seine Drohung doch noch in die Tat umsetzen. Und das bedeutete, daß Sir John endgültig schlachtreif war.

      Hasard blickte zu dem Vogel hoch, der jetzt leise brabbelte und sich von einem Bein auf das andere wiegte.

      „Fang nur an, dich über uns lustig zu machen!“ warnte der Junge.

      Philip stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

      „Um Himmels willen, reize ihn nicht noch! Wir müssen jetzt besonders freundlich zu ihm sein. Denke daran, was er hinter sich hat. Stundenlange Dunkelheit. Wir können froh sein, wenn er nicht sofort rausfliegt.“

      Hasard preßte die Zähne aufeinander, daß es knirschte.

      „Er hat Hunger und Durst. Davon können wir ausgehen. Und damit läßt sich bestimmt was anfangen.“

      „Sprich es nicht aus“, sagte Philip eindringlich. „Du weißt, was für ein gerissener Kerl er ist.“

      Hasard nickte nur. In der Tat durften sie nicht sagen, daß sie Sir John natürlich wieder einfangen mußten. In seinem eigenen Interesse zwar, aber das änderte nichts. Er würde es spitzkriegen, wenn sie es laut aussprachen, und dann war er auf und davon. Vielleicht flog er sogar wieder zu den Spaniern, um sich an Bord der „San Jacinto“ wichtigtuerisch aufzuplustern.

      Ein geltungsbedürftiger kleiner Geier war er schon immer gewesen.

      „Der arme Sir John“, sagte Hasard daher voller Mitgefühl, „er hat bestimmt einen fürchterlichen Durst. Bleib du hier, Philip, und gib ihm was zu fressen. Ich gehe mal schnell nach vorn und hole ein bißchen Wasser.“

      „Ja, tu das“, sagte Philip eifrig. „Ich gebe ihm inzwischen etwas Hartbrot und ein paar von den roten Bohnen, die er so gern mag. Er muß ja einen wahnsinnigen Hunger haben!“

      Eilends schafften die Zwillinge das Notwendige heran, um Sir Johns Appetit zu wecken. Hasard holte Trinkwasser in einer Muck, während Phillip Hartbrot zerbröselte und die Krumen zusammen mit den Bohnen auf eine Proviantkiste streute, die er in den Lichtkreis der Laterne gestellt hatte. Hasard stellte die Muck daneben, und dann wandten sie sich erwartungsvoll zur Seite, um die Reaktion des Papageis zu beobachten.

      „Rrrrübenschweine“, schnarrte Sir John und fuhr fort, sich am Kistenrand zu wiegen.

      „Der macht sich wirklich über uns lustig“, flüsterte Hasard ergrimmt. „Glaubst du nicht, daß er genau weiß, was wir wollen?“

      „Wir wollten ihm ein bißchen Bewegungsfreiheit verschaffen“, entgegnete Philip erbittert. „Daß er das gleich so schamlos ausnutzt, konnte natürlich kein Mensch ahnen.“

      „Keine Vorwürfe“, sagte Hasard leise. „Du weißt, wie empfindlich er auf diesem Ohr ist.“

      Philip nickte, atmete tief durch und nahm ein paar Krumen und Bohnen in die Hand. In der offenen Handfläche hielt er sie dem roten Vogel entgegen.

      „Sieh mal, Sir John, ist das nicht lecker? Dir muß doch der Magen knurren – nach der langen Schutzhaft. Und ist dir nicht die Kehle trocken geworden? Also, Wasser ist auch da, alter Freund. Und nun sieh endlich ein, daß wir dich nur vor Mister O’Flynn gerettet haben.“

      „So redet ein Landmann mit seiner kranken Kuh“, sagte Hasard leise kichernd. „Das behauptet jedenfalls der Kutscher immer, und der muß es ja wissen.“

      Philip forderte ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung auf, zu schweigen. In der Tat vollzog sich mit Sir John eine sichtbare Wandlung. Die freundlichen Worte und der Anblick der schmackhaften Nahrung schienen endlich ihre Wirkung erzielt zu haben. Er hob den Kopf, richtete sich für einen Moment hoch auf und duckte sich dann wieder, wobei er auf und ab wippte. Die unverkennbaren Anzeichen für den bevorstehenden Abflug, wie die Zwillinge wußten.

      Und er stürzte sich wahrhaftig von oben hinunter, rauschte mit ausgebreiteten Schwingen an Philips lockender Handfläche vorbei und landete auf der Kiste mit dem Hauptangebot an Fressen.

      „Mißtrauischer Halunke!“ fluchte Philip unterdrückt.

      Hasard näherte sich mit beiden Händen unterdessen lautlos dem Freßplatz, um blitzschnell zuzupacken.

      Sir John nahm ein paar rasche Schlucke aus der Muck, schaufelte sich Krumen und Bohnen in den Krummschnabel und entwischte den zuschnappenden Händen des Jungen mit elegantem Anlauf. Im nächsten Augenblick klatschten seine Flügel bereits wieder in der Weite der Grotte, und er drehte eine Runde nach der anderen über den Köpfen der Jungen.

      Ihnen brach der Schweiß aus. Jeden Moment konnte Old Donegal unten am Strand nach ihnen brüllen. Und was sollte dann aus Sir John werden? Der verrückte Vogel flog entweder hinüber zu den Dons und wurde dort von dem nicht weniger verrückten Anführer massakriert, oder er blieb hier, in einer trügerischen Freiheit, und wurde von Old Donegal geschlachtet und in den Suppentopf gesteckt.

      Zuzutrauen war es dem alten Griesgram wirklich – und wenn er es nur tat, um die Papageienbrühe hinterher wegzuschütten.

      „Himmel noch mal, Sir John“, sagte Philip flehentlich. „Wenn du jetzt nicht zurückkommst, mußt du die Konsequenzen

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