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Süden halten!“ befahl der Seewolf.

      Er nahm seinen Blick nicht mehr von dem Gewässer, das vor ihnen lag. Seinen Zügen war abzulesen, wie fasziniert auch er von diesem Meereskanal war. Und unausgesetzt hielt er nach anderen Schiffen Ausschau. Wenn der Kanal tatsächlich die Verbindung darstellte und sich nicht doch noch als eine langgestreckte Bucht entpuppte, dann wurde er garantiert auch von anderen Seeleuten benutzt.

      Die Dubas segelte in die Einfahrt. Wie die Mündung eines gigantischen Stromes mutete diese Öffnung an – etwa wie das Delta des Amazonas, fiel dem Seewolf ein. Vor vielen Jahren war er mit seinen Männern dort gewesen, und es war für sie alle eins der größten Naturschauspiele gewesen, das man sich vorstellen konnte.

      „Ich würde verdammt gern wissen, ob das der Bosporus ist“, sagte Don Juan de Alcazar.

      „Nach der Beschreibung unseres Freundes Güngör muß er es sein“, entgegnete Hasard.

      „Den ersten Kahn, der sich uns nähert, preien wir an“, sagte Ben.

      Dan lachte. „Vorausgesetzt, es ergeht uns nicht so wie in Batumi oder im Golf von Burgas.“

      „Immerhin haben wir uns in Batumi unsere erste Dubas geholt“, sagte Carberry.

      „Stimmt, aber das Risiko war hoch“, meinte Dan.

      „Das gehört jetzt der Vergangenheit an“, sagte der Seewolf. „Viel wichtiger ist, was vor uns liegt.“

      Der Zweimaster folgte dem Verlauf der Meerenge. Die letzten nebligen Schleier verflüchtigten sich, der Himmel färbte sich azurblau. Die Männer blickten nach Backbord und nach Steuerbord und musterten die flachen Hügel. Sie waren mit Zypressen, Olivenbäumen und Pinien bewachsen. Hier und dort waren Tiere zu erkennen, die sich zwischen den Bäumen bewegten.

      „Wildziegen“, sagte Hasard.

      „Und dort drüben fliegt ein Schwarm Enten“, sagte Dan und deutete nach Süden. Richtig – über dem Wasser flatterten in v-förmiger Gliederung Vögel. Und natürlich fehlten auch die Möwen nicht, die die Dubas begleiteten.

      „Eine wirklich schöne Gegend“, urteilte Ben Brighton. „Mir gefällt es hier.“

      „Aber wir werden vorläufig nicht landen“, erwiderte der Seewolf. „Proviant und Trinkwasser haben wir genug. Es besteht also kein Grund, hier irgendwo vor Anker zu gehen.“

      Inzwischen waren auch die Zwillinge auf dem Vordeck erschienen. Sie schauten sich aufmerksam um.

      „Merkwürdig“, sagte Philip junior mit einemmal. „Die Landschaft kommt mir bekannt vor.“

      „Ja, mir auch“, sagte sein Bruder. „Fast habe ich den Eindruck, schon mal hier gewesen zu sein.“

      „Dann strengt euren Grips mal an“, sagte Carberry. „Vielleicht kriegen wir auf diese Weise raus, wo wir jetzt stecken.“

      Die Söhne des Seewolfs grübelten darüber herum, aber zu einem Ergebnis gelangten sie nicht.

      Hasard junior erklärte lediglich: „Die Gegend sieht mir ziemlich türkisch aus.“

      „Und mein Bein zwackt immer noch“, sagte Old O’Flynn mit knurrendem Unterton in der Stimme.

      Bill, der den Posten des Ausgucks übernommen hatte, stieß plötzlich einen Ruf aus. „Segler voraus! Ein Einmaster!“

      Die Mannen spähten voraus und entdeckten einen kleinen Küstensegler mit Lateinersegel, der genau auf die Dubas zusteuerte.

      „Sehr gut“, sagte der Seewolf. „Ich hoffe, daß wir von der Besatzung des Kahns erfahren, ob wir uns hier im Bosporus befinden.“

      Salome hockte unter einem knorrigen Olivenbaum. Sie war erschöpft. Sie hatte Hunger und Durst und war verzweifelt. Die Nacht über war sie durch die Gegend geirrt. Jetzt, im Hellwerden, wußte sie sich nicht mehr zu orientieren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand.

      Vielleicht bin ich die ganze Zeit im Kreis gelaufen, dachte sie. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Ihr war entsetzlich elend zumute. Was sollte sie tun?

      Allmählich gewann sie die Fassung wieder. Erst einmal mußte sie wenigstens eine Quelle finden, um ihren Durst zu löschen. Wenn sie Glück hatte, stieß sie auf ein paar Beeren oder Früchte – gegen den größten Hunger. Danach mußte sie sich auf die Suche nach einem Gehöft begeben. Wenn sie auf Menschen stieß, die ihr halfen, die sie womöglich gar nach Istanbul begleiteten, war alles gewonnen.

      Salome erhob sich und blickte zu dem Baum auf. Er trug dicke Oliven. Aber die waren leider nicht genießbar. Erst in einem Monat würden sie reif sein. Doch auch dann konnte man sie nicht essen. Sie schmeckten bitter. Erst, wenn man sie in Salzlake einlegte, konnte man sie verzehren.

      Das Mädchen seufzte. Sie fror ein wenig. Aber als sie sich wieder in Bewegung setzte und durch den Olivenhain lief, wurde ihr wieder warm. Gut, daß es noch nicht allzu kalt ist, dachte sie.

      Der Hain ging in ein Gehölz aus Laubbäumen über. Salome eilte auf nackten Sohlen über Gras und Moos. Einmal stolperte sie um ein Haar über eine Baumwurzel, fing sich aber rechtzeitig wieder.

      Vor ihr raschelte es im Gebüsch. Das Mädchen fuhr zusammen. Zu Tode erschrocken kauerte sie sich hinter den Stamm einer alten Steineiche. Wieder war ein Geräusch zu vernehmen.

      Salome hielt den Atem an. Sie wagte nicht, auch nur einen Blick auf das zu werfen, was sich da regte.

      Dann aber sah sie es – eine Ziege. Die Ziege schlüpfte aus dem Unterholz, gab ein paar meckernde Laute von sich und trottete an Salome vorbei, als existiere das Mädchen überhaupt nicht.

      Salome hielt sich die Hand vor den Mund. Unwillkürlich mußte sie lachen, obwohl ihr im Grunde gar nicht danach zumute war. Eine Ziege! Sie wußte doch, daß es in dieser Gegend wilde Tiere gab. Warum hatte sie nicht daran gedacht?

      Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann in Beylerbey bei Istanbul. Er hatte Salome, seiner einzigen Tochter, eine erstklassige Ausbildung angedeihen lassen, obwohl das sonst nicht üblich war.

      Allah schrieb vor, daß nur Söhne etwas lernen durften. Töchter hatten sich gefälligst um die Hausarbeit zu kümmern.

      Im übrigen mußten sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gesicht verhüllen und durften nur ihr Heim verlassen, wenn die Situation es dringend erforderte. Beispielsweise, wenn sie ihren Vater irgendwohin zu begleiten hatten.

      Unwillkürlich fragte sich Salome, welchen Eindruck es wohl erwecken würde, wenn sie in ihrem Zustand ein einsam gelegenes Gehöft aufsuchte und dort um Hilfe bat.

      Was sollte man von ihr denken? Würde man sie nicht wie eine Aussätzige behandeln – oder wie eine Hure?

      Nein. Sie brauchte ja nur zu erzählen, was ihr widerfahren war. Vor Tagen – wie viele es waren, vermochte sie selbst nicht mehr zu sagen – hatten maskierte Banditen die Pferdekutsche ihres Vaters überfallen. In der Kutsche hatten Salome und ihr Vater gesessen.

      Wie die Teufel waren die Kerle über ihre Opfer hergefallen. Erst hatten sie den Kutscher, dann Salomes Vater bewußtlos geschlagen.

      Danach hatten sie eine Schatulle mit Schmuck an sich gerissen, die Pferde ausgespannt und Salome aus dem Inneren gezerrt. Anschließend hatten sie sich mit den Pferden, der Schatulle und ihrer Geisel aus dem Staub gemacht.

      Salome wußte nicht, wo sich der Schlupfwinkel befand, in den sie die wüsten Kerle verschleppt hatten. Es war ein Gemäuer, aus dem es kein Entkommen gab. Die Kerle hatten ihr die Augen verbunden, als sie sie in ihr Versteck gebracht und eingesperrt hatten.

      Diese Kerle waren keine Einheimischen. Sie sahen anders aus. Salome vermutete, daß sie Giaurs waren, Ungläubige aus dem Abendland. Wer immer sie waren – sie benahmen sich wie die Tiere. Schlimmer.

      Jeden Abend veranstalteten sie die schlimmsten Gelage. Dann hörte das Mädchen, wie die Kerle lachten und grölten. Und Frauen, die sie nicht kannte, kreischten

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