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       »Das macht dann Deutschland eben doch wieder außergewöhnlich: Nur wir wagten zu erinnern, was niemand zuvor zu erinnern gewagt hat. Nur wir übernahmen Verantwortung dafür, wofür niemand je Verantwortung übernahm. Wir verdienen es deshalb, der Welt als moralisches Leitbild zu dienen. Der neue deutsche invertierte Nationalismus besteht wie andere Nationalismen auch in der Identifizierung mit einer Erzählung, die ›wir‹, als Einzelne oder als Nation, gerne über uns hören. Es ist eine Erzählung, die uns stolz macht, uns das Gefühl der Richtigkeit unserer Werte vermittelt und uns Sendungsbewusstsein verleiht. […] Die deutsche Migrationspolitik ist, trotz allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten, eine lohnenswerte Investition in Identitätswert-Steigerung. Deutschland wird wieder als moralische Führungsnation angesehen, und deutsche Politiker gelten als moralische Führer. […] Es fühlt sich für viele Deutsche jetzt wieder besser an, deutsch zu sein. Daher ist es auch unwichtig, ob die Migrationspolitik im Sinne der Migranten selbst ist oder nicht. Viele Migranten starben auf dem Weg nach Deutschland, und die Situation in den Ländern, aus denen sie kommen, wird durch die Migration nicht besser. Profiltechnisch ist all das aber nicht wichtig. Aus der Sicht deutscher Profilinteressen ist die Migrationspolitik richtig.« 19

      Und wenn man schon mal dabei ist und weil sich Schuldstolz einfach klasse anfühlt, lässt man sich auch bei den kleineren Vergehen nicht lumpen. Auf dem Schuldkarussell sind schließlich noch Gondeln frei – wer hat noch nicht, wer will noch mal: Klima? Deutschland ist eine führende Industrienation und damit maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich. Migration? Deutschland beutet die dritte Welt aus und erhöht die Temperatur dieses Planeten, daher sind Deutsche doppelt verantwortlich für die vielen »Klimaflüchtlinge«. Gender? Allein die deutschen Tugenden des letzten Jahrhunderts haben gezeigt – Deutschland ist das Mutter-, nein, Vaterland der toxischen Männlichkeit schlechthin. Corona? Wir haben SARS-CoV-2 bekanntlich nur, weil Deutschland maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich ist … Seit wenigen Jähren dreht sich das Schuldkarussell immer schneller, und die Schlange vor dem Fahrgeschäft nimmt stetig zu. In immer schamloserer Weise wird immer größere Scham angemahnt:

       »Da dieser Tage Feindbilder am laufenden Band produziert werden – Populisten, Rassisten, Sexisten; Klimakiller, Tiertöter, Fleischfresser; Kreuzfahrttouristen, Superreiche, Konsumkapitalisten – sickert durch die Hintertür der kostenfreien Moralisierung etwas sehr Gefährliches in den Humus der Republik und vergiftet peu à peu ihr soziales Klima: eine puritanische Moral der Askese, die über Verbot und Verzicht zu gefälligem Verhalten erziehen will. Wer sich falsch verhält, wird als schuldig an den Pranger gestellt. Wer seinen Lebensstil nicht ändert – jetzt, sofort und absolut – soll sich schämen. Flugscham. Fleisch-Scham. Konsum-Scham. Klassenscham. Elitenscham. Alter-weißer-Mann-Scham.… […] [Impf-Verweigerer-Scham] Das hat autoritative, fast autoritäre Züge. Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnten letztlich Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. So würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden. Nicht die Demokratie als solche ist in Gefahr, sondern die liberale Demokratie: die auf Aushandlung, Ambivalenz, Eigenverantwortung, Pluralität und Prozess basierende beste und auch anspruchsvollste Gesellschaftsordnung, die es gibt.« 20

      Schaut man sich die Schuldeingeständnisse von Kindern an, lassen sich zwei Aspekte erkennen: Die Schuld wird irgendwie zugegeben, dann sogleich wieder abgeleitet auf den »noch schlimmer« Schuldigen. Anders gesagt, die wirkliche Schuld haben immer die Anderen. In der Debatte meint die Aussage, »man ist auf mannigfaltige Weise schuldig geworden« in Wirklichkeit, »Mann ist auf mannigfaltige Weise schuldig geworden …« In den zeitgenössischen Schuldnarrativen sind es genau genommen ja nur die »alten weißen Männer«, die das Elend in die Welt getragen haben. Gender und PC-Codes insinuieren: Wenn die Gesellschaft femininer würde, steuerten wir auf paradiesische Zustände zu. Beziehungsweise: Im Matriarchat hätten sich die derzeitigen Probleme gar nicht erst entwickelt. Schließlich hat die Wissenschaft, vertreten durch Prof. Christian Pfeiffer, zweifelsfrei festgestellt:

       »Die Dominanz der Männer ist eine Hauptquelle all der Probleme, die uns Angst machen: Überbevölkerung, Terrorismus, Umweltverschmutzung, Klimakatastrophe.« 21

      KAPITEL 2

       Große Transformation

       Demokratie neu denken

      Unmittelbar vor der Coronakrise beherrschte noch ein ganz anderes Thema die Tagespolitik. Die Geschehnisse rund um die Thüringer Landtagswahl sind ebenfalls ein hervorragendes Beispiel, um das Psychogramm der zeitgenössischen Eliten in Politik, Medien und Kultur abzubilden. Der deutsche Historiker und ehemalige Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Dr. Hubertus Knabe, sieht im Eingreifen der Kanzlerin in die Thüringer Landtagswahl gar eine Zäsur und Politikwende, die in die Geschichtsbücher eingehen wird. Im Februar 2020 überschlagen sich die politischen Meldungen, von einem »Dammbruch« war die Rede, viele sprachen gar von einem »Zivilisationsbruch«. Letzteres Wort war mir bislang nur im Zusammenhang mit dem Holocaust bekannt, aus gutem Grund war seine Verwendung diesem singulären Ereignis vorbehalten. Ursache für die Verwendung derartiger Superlative war die Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum neuen Thüringer Ministerpräsidenten – mithilfe der Stimmen von FDP, CDU und AfD. Dass auch die AfD für Kemmerich gestimmt hatte, veranlasste die Leitmedien von der »Schande von Thüringen« zu sprechen. Angesichts des postulierten Rechtsrucks der Medien – manche sprachen gar von einem »FDP-CDU-AfD-Putsch« – folgte ein unmissverständliches Machtwort der Bundeskanzlerin. Angela Merkel, die gerade im fernen Südafrika weilte, nannte den Wahlvorgang im Thüringer Landesparlament »unverzeihlich«, das Wahlergebnis müsse »umgehend rückgängig« gemacht werden.

       »Sie [Merkel] klassifiziert mit ›unverzeihlich‹ den Wahlakt eines Landesparlaments als Schuld, die nie abgetragen werden kann, als Vorgang, für den es keine Milderung gibt, auch nicht später. Damit begab sie sich, für viele in diesem konfusen Moment unbemerkt, in die singuläre Position einer politischen Kraft, die von einer Schuld lossprechen kann, oder, wie in diesem Fall, den Betreffenden die Verzeihung verweigert. Dass sich die Spitze der Exekutive als letzte Instanz sieht, die persönlich über Parlamentsabgeordnete richtet, sie öffentlich wägt und für moralisch unzurechnungsfähig erklärt – das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu Merkels Pretoria-Auftritt noch nicht.« 22

      Unmittelbar nach der Thüringer Landtagswahl hatte Merkel alle Hände voll zu tun, ihren Koalitionspartner zu beruhigen. Unter neuer Führung von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken brachte sich die SPD in Stellung für eine mögliche Fusion mit der Partei Die Linke. Die SPD plusterte sich auf und diktierte kurzerhand die Bedingungen für den Fortbestand der Berliner Koalition: Sofern der FDP-Mann Kemmerich Ministerpräsident bleibe, sei eine Fortführung der Koalition mehr als fraglich. Außerdem müsse die Schreckenstat des Ostbeauftragten Christian Hirte (CDU) gesühnt werden, denn dieser habe die Frechheit begangen, dem liberalen Thomas Kemmerich zur Wahl zu gratulieren. Damit habe Hirte seine bislang tadellose Karriere verwirkt und müsse umgehend entlassen werden.

      »Der Co-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans forderte überdies eine Entschuldigung Kramp-Karrenbauers. ›Christian Lindner hat sich praktisch entschuldigt, das ist ein wichtiges Eingeständnis – das erwarten wir auch von Annegret Kramp-Karrenbauer‹, sagte Walter-Borjans.«23

      Im Februar 2020 war es ein offenes Geheimnis, dass die SPD den PDS-Linken Bodo Ramelow gern wieder im Amt des Ministerpräsidenten gesehen hätte. Dies wiederum ging nummerisch ebenfalls nur mit den Stimmen der CDU. Die Thüringer CDU stand also vor der Zerreißprobe, entweder die Paria-Parteien rechts oder links – AfD oder Die Linke – zu unterstützen. Salomonische CDU-Parteitagsbeschlüsse, die von der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer geteilt wurden, mahnten jedoch dazu, weder rechte noch linke Ränder zu unterstützen. Inzwischen ließ sich die Botschaft der Bundeskanzlerin aus dem fernen Südafrika aber auch

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