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gab es Siedlungen. Aber man war nicht in Sibirien, sondern mitten in Deutschland!

      Gleich würde er das grüne Schild passieren, dann war er wieder zurück. Eine schwarze Wolke erhob sich kurz vor ihm. Krähen hatten es sich im Straßengraben und auf dem Feld gemütlich gemacht. Wer weiß, was sie gefunden hatten.

      Er war schon fast am Schild vorüber, als er die dunkle Gestalt im Straßengraben liegen sah. Zuerst dachte er, es sei ein Vagabund, so wie er auch, der einfach verschlafen hatte.

      Doch dann sah er die vielen dunklen Flecken. Das war getrocknetes Blut. Fliegen schwirrten herum. Er traute sich nicht, nachzusehen, wer da im Straßengraben lag.

      Schnellen Schrittes lief er ins Dorf. Er brauchte ein Telefon. Sofort. Nein, so was war ihm noch nie vorgekommen. Ein Toter am Straßenrand. Und direkt vor seinem Dorf!

      Flachbeins Atem ging schneller. Elvira war ihm entgegengekommen. Sie schaute ihn verstört an. So hatte sie ihren zigeunernden Ehemann ja noch nie erlebt. Mit weit aufgerissenen Augen stammelte er etwas von einem Toten im Straßengraben, und dass die Polizei kommen müsse, es gäbe auch viel Blut.

      Ob er fantasiere, fragte sie ihn. Es würde kein Mensch vermisst im Dorf. Da wäre niemand. Wer weiß, was er gesehen habe, vielleicht ein totes Tier.

      Flachbein wurde ungehalten. Er wisse wohl, wie ein überfahrenes Reh aussehe, und Rehe trügen keinen Kapuzenpullover, das sei nun einmal Fakt.

      Elvira schüttelte den Kopf. Sie war ja froh, dass er wieder gesund und munter zurück gekommen war von seiner Tour. Immer hatte sie Angst, dass ihm etwas passieren könnte.

      Mit zitternden Fingern wählte Ernst Flachbein die Eins-Eins-Null. Eine hohe Frauenstimme fragte ihn, ob er Hilfe benötige. Flachbein schilderte kurz seinen Fund, dann legte er auf.

      Elvira sah ihn immer noch etwas ungläubig an. Doch nach zwanzig Minuten rollte ein Polizeiauto auf den Hof. Zwei Uniformierte stiegen aus, grüßten höflich und ließen sich von Flachbein noch einmal schildern, was er da im Straßengraben entdeckt habe. Dann nahmen sie ihn mit im Polizeiwagen, er solle doch die Stelle zeigen. Eine Stunde später wimmelte es im Dorf vor Polizei. Ein Krankenauto und ein Leichenwagen waren ebenfalls vor Ort, dazu noch zahlreiche Zivilfahrzeuge. Die Landstraße am Ortseingang war mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden.

      Flachbein saß in einem weißen Kastenwagen und unterzeichnete das Zeugenprotokoll. Die Leiche aus dem Straßengraben war eines unnatürlichen Todes gestorben. Ein Schnitt mit einem scharfen Messer hatte die Kehle durchtrennt. Der Anblick war selbst für die durch zahlreiche Verkehrsunfälle abgehärteten Beamten gewöhnungsbedürftig.

      Nach vier Stunden kam das Dorf wieder zur Ruhe.

      Ende der Schonzeit

       Das Morgen von gestern ist das Gestern von morgen,

       man nennt es auch Heute.

      

       Ein Spruch von Regina Pepperkorn, Profilerin

       Ausländer, Fremde, sind es meist, die unter uns gesät den Geist der Rebellion. Dergleichen Sünder, Gottlob! sind selten Landeskinder.

       Der Obrigkeit gehorchen, ist die erste Pflicht für Jud und Christ. Es schließe jeder seine Bude. Sobald es dunkelt, Christ und Jude.

       Wo ihrer drei beisammen stehn, da soll man auseinander gehn. Des Nachts soll niemand auf den Gassen sich ohne Leuchte

       sehen lassen.

       Es liefre seine Waffen aus ein jeder in dem Gildenhaus; Auch Munition von jeder Sorte wird deponiert am selben Orte. Wer auf der Straße räsoniert, wird unverzüglich füsiliert; Das Räsonieren durch Gebärden soll gleichfalls hart bestrafet werden.

       Vertrauet Eurem Magistrat, der fromm und liebend schützt den Staat. Durch huldreich hochwohlweises Walten; euch ziemt es, stets das Maul zu halten.

      

      Heinrich Heine: »Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen« 1834/1835

      I

      Potsdam

      Montag, 1. Oktober 2007

      Die Woche begann für Linthdorf mit einem unerwarteten Rapport bei seinem Chef, Kriminalrat Dr. Nägelein.

      Seit seiner Rückkehr ins Berufsleben war Hauptkommissar Linthdorf mit keinem neuen Fall betraut worden. Er fristete ein unbefriedigendes Schattendasein im Innendienst. Sortierte Akten, archivierte, registrierte, kopierte, fotografierte, telefonierte …

      Linthdorf kam Mitte Juni zurück von einer sechswöchigen Kur. Er erschien den Kollegen gegenüber schmaler und weniger präsent als zuvor. Natürlich, Linthdorf war noch immer eine imposante Erscheinung. Seine lichte Höhe von zwei Metern und vier Zentimetern war einfach nicht zu übersehen.

      Aber seine sonst von allen wahrgenommene, starke körperliche Präsenz war nicht mehr so intensiv. Auf Kur hatte er zwölf Kilogramm abgenommen. Das sei für sein angegriffenes Herz gesünder, hatten die Ärzte ihm gesagt. Er hielt sich daran, versagte sich öfters Dinge, die er sonst mit viel Genuss zelebriert hatte.

      Keine Schokolade mehr und keine Kekse. Auch die Limonaden verschwanden aus seinem Kühlschrank. Dafür nagte er jetzt öfters Äpfel und Birnen ab. Seine Mittagsportionen waren auch nicht mehr dieselben wie früher. Vorsuppen verschwanden, Nachttisch ebenfalls.

      Nägelein hatte bei seiner Rückkehr darauf bestanden, ihm eine sechsmonatige Schonzeit im Innendienst zu verordnen. Linthdorf protestierte zwar, war aber letztlich mit der Weisung Nägeleins ganz gut klargekommen.

      Er war ausgeglichener, fühlte sich zufriedener und glücklicher. Die Melancholie, die sonst immer ein wenig seine offen zur Schau gestellte Freundlichkeit begleitete, war verschwunden. Linthdorf war angekommen im Hier und Jetzt. Nur selten noch gönnte er sich lethargische Auszeiten, in denen er grübelnd und seufzend den vergangenen Zeiten nachhing. Die dunklen Schatten der Vergangenheit schienen keine Macht mehr über ihn zu haben.

      Der Innendienst brachte neben der etwas eintönigen Arbeit auch einen regelmäßigen Wochenrhythmus mit sich. Die Wochenenden waren frei, Linthdorf hatte plötzlich den Luxus, über zwei freie Tage an jedem Wochenende zu verfügen.

      Freitagabend fuhr er mit seinem geliebten SuV Richtung Thüringen, nach Weimar. Dort blieb er bis Montag früh. Seit seinem Kuraufenthalt hatte er Thüringen als Kulturland für sich entdeckt. Aber der Hauptgrund für die Wochenendfahrten war ein ganz anderer: er war groß, blond und lächelte ihn an. Milena.

      Milena war in Linthdorfs Leben gekommen wie ein Regenschauer, der auf trockene Erde fiel. Sie war intelligent, kultiviert, sinnlich, eben alles, was er brauchte, um mit sich ins Reine zu kommen und dabei gleichzeitig für andere wieder da zu sein. Sie war sein Ruhepol und Energiequell.

      Im Sommer waren sie zusammen verreist. Mit dem Auto bis nach Mostar in Bosnien-Herzegowina, Milenas alte Heimat. Eine abenteuerliche Tour war es geworden. Über Dresden, Prag, Wien nach Ljubljana, dort in den Karawanken ein paar Tage geblieben, einen Abstecher nach Triest in Italien, dann weiter nach Istrien, Rijeka, entlang der dalmatinischen Küste bis Dubrovnik. Schließlich Mostar mit seiner zauberhaften Kulisse, der wiedererrichteten Brücke über der grünschimmernden Neretva und dem Besuch bei Milenas Mutter und ihren Verwandten. Zurück dann über Sarajevo, Budapest, Bratislava. Eine dreiwöchige Reise.

      Linthdorf hatte schon viele Jahre keinen wirklichen Urlaub mehr gemacht. Meist verbummelte er seine Urlaubstage. Aber den heißen Sommer in diesem Jahr hatte er voll ausgekostet. Gut erholt war er zurückgekommen. Alle sahen einen braungebrannten und heiteren Linthdorf, der leise summend an seinem Schreibtisch saß und seine Ordner bearbeitete.

      Die

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