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Mutter, eine etwas wunderliche, aber herzensgute Frau, bekochte ihre Tochter, kümmerte sich um die Wäsche, half ihr bei finanziellen Engpässen und fütterte die beiden Katzen, die eigentlich Karolin gehörten.

      Als Gegenleistung ließ Karolin ihre Mutter an ihrem Leben teilhaben, indem sie ihr jeden Abend ausführlich berichtete, was so alles passiert war. Diese Abendgespräche waren das Lebenselixier für die Mutter. Tagsüber, wenn Karolin in der Stadt unterwegs war, traf sie sich mit anderen älteren Damen zum Kaffee oder sie frönte ihrer Leidenschaft, nähte aus allen möglichen Stoffresten Taschen und bastelte Püppchen. Eigentlich auf den ersten Blick ein harmonisches Miteinander.

      Aber Karolin fühlte sich unglücklich in dieser Wohngemeinschaft. Sie wollte hinaus ins Leben und nicht versauern in der etwas plüschigen Welt ihrer Mutter. Es kam daher auch immer wieder zu Auseinandersetzungen. Meistens jedoch musste sie einlenken, denn wirtschaftlich war sie eben von ihrer Mutter abhängig. Aus dieser Ohnmacht wurde sie erst durch Zach befreit.

      Jetzt hatte sie endlich einen triftigen Grund, diese eigentümliche Wohngemeinschaft auflösen zu können. Ihrem persönlichen Glück konnte sich ihre Mutter nicht entgegenstellen, dass wusste sie. Innerhalb von nur zwei Monaten hatte sich alles geregelt.

      Durch einen Zufall war die Nachbarwohnung frei geworden. So blieb Karolin noch in unmittelbarer Nähe zur Mutter, konnte aber endlich in einer eigenen Wohnung leben. Die große Altbauwohnung wurde in kurzer Zeit von den beiden renoviert und eingerichtet. Zach war glücklich. Auch sein kleiner Sohn Adrian kam wunderbar mit Karolin zurecht. Sie hatte keine eigenen Kinder.

      Irgendetwas schien bei ihr nicht zu funktionieren. Sie schob es auf ihre wilde Zeit als anarchistische Weltverbesserin. Damals hatte sie in München jede Demo mitgemacht, war bei den AKW-Gegnern engagiert und kettete sich an Schienen bei Castor-Transporten. Die bayrische Polizei war in den Achtziger Jahren rigoros gegen solche Störenfriede vorgegangen.

      Sie erzählte etwas von Reizgas und anderen chemischen Keulen, die da zum Einsatz gekommen sein sollten und wovon sie letztendlich unfruchtbar geworden sei. Zach staunte nur, konnte aber mit all diesen Dingen nicht viel anfangen. Er war im Osten aufgewachsen und damit abgeschirmt von all diesen Kämpfen, welche die Bundesrepublik damals erschütterten. Zumal er sich seine Karolin nur schwer als anarchistische Barrikadenkämpferin vorstellen konnte.

      Endlich hatte sein Traum von einer intakten und glücklichen Familie sich verwirklicht. Dafür hatte er vieles getan.

      Auf den Straßen von Berlin

      Samstagnacht, 31. Dezember 2005

      Zach fuhr nun schon seit drei Stunden durch die Stadt. Irgendwie wurde seine Situation immer trostloser und verworrener. Er wusste sich einfach nicht weiter zu helfen und sah nur einen Ausweg aus seinem Dilemma.

      Es war stockfinster draußen. In der Ferne waren erste Böller zu hören. Auch ein paar Raketen zischten immer wieder durch den dunklen Himmel und hinterließen farbige Spuren.

      Er hatte schon längst die Orientierung verloren, steuerte mechanisch den Wagen durch ein dünnbesiedeltes Viertel hinter dem Nordbahnhof. Tagsüber war hier schon wenig los, aber nachts war die Gegend wie ausgestorben. Eine dichte Baumreihe filterte das Licht der trüben Straßenbeleuchtung durchs Geäst. Die dunkle Straße schluckte das Licht förmlich, ebenso die ewig lange Friedhofsmauer aus ergrauten Klinkern. Er fuhr hier öfters entlang, wenn er dem Stau in der Chausseestraße entgehen wollte und kannte die vielen kleinen Abkürzungen in der Innenstadt.

      Vor sich sah er plötzlich ein rotes Licht. Es gehörte zu einem Fahrrad. Darauf eine seltsam vertraute Person. Zach erkannte sie sofort.

      Es war Karolin, seine Karolin!

      Was hatte die jetzt in der Nacht hier zu suchen? Wohin fuhr sie? Auf alle Fälle nicht nach Hause, denn das wäre die entgegengesetzte Richtung. In Zach stieg die Wut wie eine heiße Hitzewelle hoch. Der gesamte Frust der letzten Tage und Stunden kochte zu einem einzigen kompakten Gefühl zusammen: zu reiner Wut. Zach trat das Gaspedal durch und steuerte auf das rote Licht zu ...

      Auf den Straßen von Berlin

      Sonntag früh, 1. Januar 2006

      Die letzte Nacht hatte Zach als Alptraum erlebt. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder sah er die Frau im hohen Bogen über den Lenker stürzen und sah das kaputte Fahrrad im Schneematsch liegen. Und immer wieder schoss ihm durch den Kopf: Du hast sie umgebracht!

      Das Geräusch des Auftreffens der Stoßstange auf das Fahrrad, der schrille Schrei der Frau auf dem Rad und das harte Aufschlagen ihres Körpers auf dem Straßenboden – alles war der Ablauf von gerade einmal ein bis zwei Sekunden, die für Zach unendlich langsam waren. In einer Art Zeitschleife liefen diese beiden Sekunden immer wieder in Slow-Motion vor seinem inneren Auge ab. Er sah sich selbst aus dem Auto steigen und zu der reglos am Boden liegenden Gestalt hinlaufen.

      Sie lag vor ihm im Schneematsch und bewegte sich nicht mehr. Ihr Gesicht war merkwürdig bleich. Angst erfüllte in diesem Moment Zachs Innerstes und ließ ihn davonlaufen. Er setzte sich ins Auto und fuhr mit laut aufheulendem Motor los. Nur weg!

      Erst nach einer halben Stunde hatte er sich wieder soweit im Griff, bis er ein paar klare Gedanken fassen konnte. Der erste Gedanke war zu helfen.

      Sie konnte da nicht den Rest der Nacht über liegen bleiben, sie musste in ein Krankenhaus. Und zwar so schnell wie möglich. Zach drehte seinen Kombi und fuhr mit stark überhöhter Geschwindigkeit zurück. Er bog mit einem lauten Quietschen in die stille Straße am Friedhof ein. Die Stelle, wo sie lag, musste gleich kommen ...

      Er erstarrte. Dort, wo eigentlich Karolin am Boden liegen musste, war nichts, absolut gar nichts. Nur das Fahrrad lag noch einsam herum. Der Schneematsch war vollkommen zertreten, als ob sie einen Tanz im Schnee gemacht hätte.

      Unmöglich!

      Er hatte es doch mit eigenen Augen gesehen: Sie lag ohnmächtig am Boden. Und jetzt war sie weg!

      Zutiefst verunsichert stand Zach herum. Was sollte er nur machen?

      Wenigstens das Fahrrad konnte er mitnehmen. Vielleicht war Karolin ja auch zu Hause oder im Krankenhaus? Er musste es herausfinden. Schnell legte er das Fahrrad zusammen und packte es in den geräumigen Frachtraum seines Kombis. Dann fuhr er los Richtung Wedding. Durch seinen Kopf jagten wirre Gedanken, die sich allesamt um den Unfall drehten. Irgendetwas stimmte jedoch nicht, und Zach hatte ein ungutes Gefühl.

      Am Landwehrkanal

      Montag früh, 2. Januar 2006

      Irgendwie steuerte das Auto von selbst das Ufer des Landwehrkanals an. Zach war die Gegend vertraut. Hier war er mit seiner Karolin oft spazieren gegangen.

      Im Sommer hatte das Ufer etwas Verträumtes. Die Bäume spendeten Schatten, unzählige Insekten schwirrten in der Luft und im Wasser gluckste es ab und an, so als ob ein Wassermann vom Grunde des Kanals ihnen einen Gruß heraufschickte.

      Doch jetzt war es hier trist und grau.

      Der Mann mit dem grauen Mantel trottete am Ufer entlang und schien gar nicht zu bemerken, was um ihn herum passierte. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Das war ihm inzwischen klargeworden. Karolin war verschwunden.

      Er hatte alle Krankenhäuser nach ihr abgefragt. An Schlimmeres wagte er gar nicht zu denken. Es hatte ja sowieso keinen Sinn mehr. Seinem kleinen Sohn hatte er gestern noch einmal versichert, dass er ihn immer liebhabe. Der Junge hatte ihn etwas verstört angeschaut. Ein Blick, der Zach innerlich vollkommen aus der Balance gebracht hatte.

      Er war sich nicht mehr sicher, was er machen sollte. Aber wenn er an die Ereignisse dieser Dezembernacht zurückdachte, wurde ihm immer mehr bewusst, dass er nur eine wirkliche Lösung seines Problems noch hatte.

      Jetzt lag der Kanal als trübgraues Gewässer vor ihm.

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