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großen, blauen Augen erblicken. Er holte einen bunten Teller mit Mandarinen, Äpfeln und Pfefferkuchen aus der Küche, bot seiner Assistentin ein Gläschen Punschlikör an und genoss die Atmosphäre völliger weihnachtlicher Harmonie.

      Ganze zwei Minuten dauerte das Idyll, dann hielt er es nicht mehr aus. Geschäftig räumte er den Tisch ab, lief erstaunlich schnell in seinen Pantoffeln Richtung Lesezimmer, einem kleinen Raum direkt neben dem geräumigen Wohnzimmer. Dort hatte er die drei Folianten deponiert. Die vier Kladden aus dem dritten Folianten hatte er obenauf gelegt.

      »Fräulein Seidelbast, das sind sie. Alles in Französisch. Ich brauche ihre Hilfe … Mein Französisch ist rudimentär, aber Sie können doch … Es ist etwas Brisantes. Ein Militärgericht, wahrscheinlich aus der Zeit der Französischen Okkupation Preußens.«

      Die Angesprochene hatte sich die erste Kladde gegriffen und blätterte darin herum.

      »Es ist schwierig. Eine Schreibschrift, die sich schwer lesen lässt. Ich werde ziemlich viel Zeit dafür brauchen… Aber ich probiere es.«

      Scholetzki atmete durch. »Können sie mir schon sagen, wann ich die ersten Seiten…?«

      Schulterzucken, Schweigen, schließlich ein Seufzen. »Naja, mit etwas Glück, nach den Feiertagen. Ich nehme mir die Kladden mit nach Hause. Das habe ich nun davon. Man sollte eben keine Geschenke vom Trödelmarkt machen.«

      Scholetzki lächelte. Er hatte nichts Anderes erwartet. Fräulein Seidelbast war eben eine gute Seele.

      »Sie ahnen es sicherlich, aber möglicherweise sind die drei Folianten des Geheimrats Kieselblatt eine kleine Sensation. Es geht um den Ankauf einer der großen Skulpturen im Park Sanssouci, um den Grünen Bogenschützen.«

      Mit einem leicht spöttischen Lächeln quittierte sie die Ankündigung.

      »Nun, Herr Scholetzki, das habe ich mir auch gedacht beim oberflächlichen Überblättern. Da sind Sie als studierter Historiker doch wohl eher geeignet, die Akten auszuwerten und zu würdigen. Aber nun wird es langsam Zeit, es ist immerhin Heiligabend. Ich werde mal losgehen.«

      Scholetzki schnaufte und wischte sich mit einem karierten Taschentuch über die schwitzende Stirn, die bei ihm inzwischen bis auf die Rückseite des Schädels reichte. Der Punschlikör zeigt Wirkung.

      »Ja, nein, also, natürlich … Sie haben sicherlich … Nein, es war schon toll, dass Sie vorbeigekommen sind. Wirklich! Sie sind mir immer eine große Hilfe, wissen Sie, also, ja … Das wollte ich Ihnen auf alle Fälle noch sagen.«

      Fräulein Seidelbast spürte für einen Augenblick eine kurze Irritation. Nicht dass es ihr peinlich wäre, nein, nein, der Altersunterschied zwischen ihr und Scholetzki war groß genug, etwaige Gefühlsduseleien ad absurdum zu führen.

      Nein, es war auch …, da war so viel, was Fräulein Seidelbast spürte, was nicht zueinander passte. Scholetzki war ein Gemütsmensch, dem Genuss nicht abgeneigt. Fräulein Seidelbast war genau das Gegenteil. Diszipliniert, spartanisch, arbeitsam.

      Viel zu lang war sie schon hier bei Scholetzki. Eigentlich hatte sie für Heiligabend ganz andere Pläne. Sie musste los, schnell und sofort.

      Fünf Minuten dauerte es dennoch, bis sie es endlich geschafft hatte aus der Petzower Idylle zu entfliehen. Ihr war das alles immer noch suspekt. Sie gönnte sich selbst keine wirklich schönen Momente mehr.

      Zu viele Enttäuschungen hatte sie erlebt. Jede Hoffnung auf eine eigene Familie hatte sich bei ihr nach kurzer Zeit zerschlagen. Ein passender Kandidat war nicht in Sicht. Sie verkroch sich im Archiv in Lindstedt, widmete sich voll und ganz den Büchern. Jetzt war sie Ende dreißig, fühlte sich aber wie Mitte sechzig. Mit niemanden konnte sie über ihren Zustand sprechen. Am allerwenigsten mit Scholetzki, der als permanente Frohnatur überhaupt nicht auf die Idee kam, einmal nachzufragen, wie es wirklich in ihr aussah.

      Seit drei Jahren besuchte sie eine Selbsthilfegruppe, die von einem Psychologen geleitet wurde. Wirklich geholfen hatte ihr die Gruppe bisher noch nicht. Eine gewisse Genugtuung war für sie, dass es Menschen gab, denen es noch schlechter ging.

      Aber das war kein Thema für die Öffentlichkeit. In der Gruppe sprachen sich alle mit Vornamen an. Sie war für alle Ina Maria, Nachnamen wurden gar nicht genannt. Sie kannte von ihren Mitstreitern nur die Vornamen. Komisch, normalerweise hörte sie ihren Vornamen im normalen Leben nirgends. Sie war für die meisten Menschen eben Frau Seidelbast und für ihren Chef das Fräulein Seidelbast. Als ob ihr Nachname ihre einzige Identität wäre. Ina Maria war irgendwann abhandengekommen.

      Ina Maria war ein fröhliches Mädchen mit schweren Zöpfen, das es liebte herumzutollen und sich zu verstecken. Im Garten ihrer Großeltern lag das Paradies, bestehend aus Obstbäumen, Blumenbeeten, dazwischen ein kleines Zelt mit Decken, Körbchen für ihre Püppchen und eine Hängematte zwischen zwei alten Kirschbäumen.

      Ina Maria war auch ein kichernder Backfisch, die mit hochrotem Kopf herumlief, wenn sie spürte, dass die Jungs ihr auf den ausgeprägt runden Hintern schauten. Immerhin war sie Sprinterin, Leistungssportlerin, ein Muskelpaket, nervös und hochsensibel.

      Ina Maria war auch noch die Literaturstudentin, die abends bei Kerzenschein mit anderen Studenten selbstverfasste Gedichte vorlas und den Klängen der Gitarre lauschte.

      Plötzlich war Ina Maria verschwunden und nur noch der Nachname blieb stehen. Seidelbast stand für alles, was ihre gegenwärtige Lage ausmachte: Disziplin, Entsagung, Einsamkeit.

      Eine unerfüllte Liebe zu einem Professor, eine unglückliche Beziehung mit einem chaotischen Lebenskünstler, der sein Geld bei Poetry Slams verdiente und es sofort wieder ausgab. Nach einem kurzen Jahr des unbeständigen Glücks im Chaos und einem ausgereizten Dispokredit war der Lebenskünstler wieder aus ihrem Dasein verschwunden.

      Das Unglück wurde komplettiert von einem aufstrebenden Jungunternehmer, der in einer anderen Liga wirtschaftete. Das dynamische Genie verfügte über erstaunliche Geldmittel, die sich in schnellen Sportwagen, einer Segelyacht und mondänen Feiern in einer Vorstadtvilla manifestierten. Sie kam sich in dessen Welt wie eine lebende Trophäe vor, »geschossen« und vorgeführt. Nein, es war nicht ihre Welt, sie langweilte sich bei den exklusiven Segeltörns und sie fühlte sich unwohl bei den Partys in der Villa. Champagner floss in Strömen, Kaviarhäppchen, Austern, natürlich zuckend frisch, triviale Spielchen jenseits der Gürtellinie und peinliche Auftritte zugedröhnter Möchtegern-schauspieler waren an der Tagesordnung. Sie floh aus der dekadenten Welt des jungen Rockefellers.

      Seit dieser Erfahrung hielt sie sich fern von der Männerwelt und begnügte sich mit den Helden der Bücher und den Träumen, die sie anschließend hatte. Sie ritt mit den wilden Reitern Tschingis Khans durch die mongolische Steppe, litt mit Fontanes starken Frauen Effi, Lenchen und Stine, erschauerte jedes Mal erneut, wenn sie die Briefe Nathaniels las und dessen Weg in den Wahnsinn begleitete und erlebte die Entdeckung der Langsamkeit. Bücher gaben ihr Halt in der immer trostloser werdenden Realität.

      Und jetzt musste sie los. Sonst würde sie noch anfangen zu weinen. Das ging nicht. Nie wieder könnte sie ihrem Chef unter die Augen treten.

      Den Schal hatte sie bereits umgelegt, ihre Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen und den langen Anorak geschlossen. Die Kladden packte sie in eine große Umhängetasche.

      Scholetzki war besorgt. Draußen war Dauerregen und es dunkelte schon. Ob er sie noch zum Bahnhof …? Nein, nein, sie wolle noch etwas frische Luft schnappen. Laufen tue ihr gut.

      Sie verschwand im Dunkel. Scholetzki schaute aus dem geschlossenen Fenster der entschwindenden Gestalt nach bis sie eins war mit dem Grau der Umgebung.

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