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mit den Zügeln zu verstehn, dass es mit gemütlichem Schritt nicht getan war.

      Aber Vladimir war auch das nicht schnell genug, und er redete wie besessen auf den Kutscher ein: »Der Vater! Es geht um Leben und Tod! Der Vater! Wissen Sie nicht, haben Sie nicht gehört, er will sich duellieren … Satisfaktion … steht in der Zeitung. Und alle zerreißen sich’s Maul drüber!«

      »Wird schon nicht so schlimm kommen«, versuchte Salewski den jungen Heißsporn abzukühlen. »Der Senator wird wissen, was er tut.«

      Vladimir stand. Stand neben sich. Hatte sich nicht im Griff. Packte einfach – wiewohl ihm sehr bewusst war, dass er dadurch in anderer Leute Regiment herumfuhrwerkte –, packte die Peitsche, die neben Salewski locker und verlockend in ihrer Halterung wippte, ließ sie zwei, drei Damoklesschwertrunden überm Kopf des Pferdes drehen, um dann mit dem Peitschenknoten den schnellen Knall abzufeuern. Was der Rappen mit nicht mehr als drei Galoppsprüngen quittierte, bevor er wieder in den pomadig trägen Trab zurückfiel.

      »Fahrt zu, Salewski!«, brüllte der Junge ein ums andere Mal. »Die sitzen schon bei uns im Salon, jede Wette, und verhandeln über die Waffen. Und Ihr kriegt den Gaul nicht in Schwung!«

      »Wenns um die Ehre geht, das ist ’ne ernste Sache!« Salewski nahm Vladimir die Peitsche aus der Hand. Der Junge ließ es geschehn. Er wusste, hatte er den alten Salewski erst mal auf seiner Seite, konnte er sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Und prompt tippte dieser dem Klepper mit der Spitze der Peitsche auf den Hintern, und das Vieh ließ die Hufe traben, als hinge ihm der Satan höchstpersönlich in der Mähne und schlüge ihm die langen, die messerscharfen Krallen in den Hals. Der Schlitten stob im Affentempo durch die weiße Stadt. Mit glühenden Hufen, die tief eingeschmolzene Spuren in den Schnee frästen. Vladimir ließ sich endlich auf die Bank fallen und legte das Gesicht in die Hände.

      Es dauerte nicht lange, da zog Salewski die Zügel an, das dampfende Ross kam schnaubend und prustend zum Stehn. Doch der Junge war schon vorher abgesprungen, riss die Haustür auf, rannte ins Vestibül und stoppte abrupt vor der großen Treppe, wo soeben, gemessenen Schrittes und in munteres Plaudern begriffen, der Senator und seine Frau herunterkamen.

      »Kleingeist von einem Zeitungskleckser«, zeterte der Senator vergnügt, »traut sich nicht mal! Traut sich nicht mal selbst! ›Satisfaktionsunfähig‹, dass ich nicht lache! Schickt seinen Chef ins Feuer!«

      »Und dich!« Jelena Iwanowna legte ihrem Mann den Arm in die Ellenbeuge.

      »Jetzt dürfen wir erst mal gespannt sein, in was für windigen Wortschnörkeln der Chefredakteur sich in der nächsten Ausgabe zu entschuldigen weiß für die ungeheuerlichen Anschuldigungen, die sein ewig gestriger Tintenschleimer da verbrochen hat.«

      »Na ja«, war seine Frau zur Stelle, »deine Artikel über die Londoner Fälle von neunjährigen, von zehnjährigen Mädchen …«

      »Zwölf. Zwölfjährigen Mädchen.«

      »… von zwölfjährigen Mädchen, die Lüstlingen zum Opfer fallen – und sowas nicht eindeutig zu verdammen, dich vielmehr reichlich liberal gegenüber so einigen abnormen Praktiken zu äußern, und das auch noch schriftlich, das ist natürlich auch etwas gewagt.«

      »Vor dem Hintergrund prüder, biederer Moral vielleicht. Aber damit hab ich mich ja noch lange nicht des offenen Rechtsbruchs schuldig gemacht, wie dieser viertklassige Skribent in seiner käsestinkenden Gazette gekritzelt hat. Ich und offener Rechtsbruch! Als Jurist! Muss einem erst mal einfallen, so was.«

      »Jede noch so barocke Entschuldigung«, gab Jelena Nabokov zu bedenken und wippte leicht mit der waagerechten Hand in der Luft, um ihrem Mann zu bedeuten, dass er sich gedämpfter Lautstärke befleißigen solle, »jede missratene Bitte um Nachsicht ist allemal besser, als wenn du ihn niederschießen müsstest.«

      »Oder er mich«, lachte der Senator. Und stockte. War seines Sohnes gewahr geworden, der völlig verdattert unten vor der Treppe stand. Und ihn anstarrte. Flatternde Pupillen in schwarzen Augenhöhlen in kalkweißem Gesicht. »Junge, wie siehst du denn aus!«

      Jetzt gabs kein Halten mehr, die Tränen rannen Vladimir übers Gesicht. Er ließ einfach laufen, hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich ihrer zu schämen. »Vater … Vater, du hast doch nicht, du wirst doch nicht …«

      »Hast wieder kein Nastuch, Junge?!«, ging ihn die Mutter an.

      10.

      Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.

      Anfang Februar 1991.

      »Wolln wir ’n kleenet Spazierjängelchen wagen, Véra?«, fragte Belinda mit ungespielter Freundlichkeit.

      »Ich wüsste nicht, dass wir beim Du sind.«

      »Jut jut, dann eben: Kleenet Spazierjängelchen jefällig, Nabokovsche?«

      »Wie käme ich dazu!«, kam es packeiskalt zurück.

      »Na ja nu, ick weeß doch, is doch ’n Trauerspiel, wem’ma nich mehr loofen kann. Un Se sind doch Ihr Leben lang jeloofen. Als echtet Jranatenweib. Un hier dette, der See im Winta – schon sind Se in Jedanken wieda zu Haus. Sind zurück in’t jeliebte Petersburg. Wa? Oder Wyra. Wyra erst! De Datsche, Sommer mit den Jören, Vatta un Sohnemann hinter de Flatterbiesters hinterher. Un die Tochta un Sie uff de Terrasse un am Häkeln, Stricken, Französisch Parlieren. Idylle pur.«

      »Ich habe Sie nicht gebeten, mir mein Leben zu referieren«, murrte Véra Jewsejewna Nabokov und streckte ihre Nase so hoch in die Luft, wie es der Ohrensessel zuließ, »noch weniger hab ich Sie gebeten, mir mit Ihrer albernen Küchenpsychologie in die Nieren zu treten.«

      »Heh holla, war nich so jemeent. Wa? Nu ma nich so empfindlich, Frau Senator, nach allem, wat Se durchjemacht ham, hätt ick Sie doch bissken mehr Stehvermöjen zuje…«

      »Es ist unglaublich, was Sie sich erlauben!«

      »So, jute Frau, ick hab mir bei’t Personal ’n Rollstuhl orjanisiert.« Véras Protestversuche wischte Belinda mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch, schob den scheppernden Rollstuhl aus der Türnische hervor, klappte ihn auseinander und schob ihn direkt neben Véras Sessel zur Seesicht. Blickte sie auffordernd an.

      »Sie können sich die Chaise selbst unter den Allerwertesten schnallen und in den Schlund der Hölle eiern. Es ist mir herzlich egal. Aber verschonen Sie mich mit Ihrem missionarischen Eifer«, meckerte es aus dem Sessel. »Machen Sie, dass Sie verschwinden!«

      »Nu ma langsam, Juteste. Wir ham immerhin jeschäftlich noch so Een’jet zu klärn. Wa?«

      Unfassbar, diese freche Person, die das Oberwasser für sich gepachtet hatte. Die meinte, sie in der Hand zu haben. Und auch hatte. Mehr, verdammt mehr, als einem lieb sein konnte. Véra hatte sich also nicht getäuscht: diese ganze Freundlichkeit, der angebotene Spaziergang, das Einfühlen in ihre Erinnerungsvorräte, alles Strategie, alles Geschäftsgebaren, eine einzige Ausgeburt des Neids. Neid auf die Frau eines Dichters, eines weltberühmten Dichters.

      11.

      St. Petersburg.

      Herbst 1915.

      Nicht selten, insbesondere wenn die kalten Oktobernebel durch die Petersburger Straßen schlichen und die ganze Stadt in einen geheimnisvollen Hochzeitsflor hüllten, überkamen den Senator Anwandlungen, sich unter die Hafenburschen zu mischen. Dann machte er sich oft schon nachmittags auf, während seine Frau nichts ahnend beim Tee saß. Marschierte schnurstracks in den Kirovskij-Bezirk, schwenkte zum Hafen und suchte die eine oder andere finstere Spelunke auf, in die er vor Jahren vielleicht einmal geraten war und die ihm geradezu ans Herz gewachsen war. Oder eine Bierhöhle, die er zum ersten Mal betrat. Was seine Neugier noch mehr entflammte. Die Gänsehaut jedenfalls, die sich beim Aufschlagen des schweren Filzvorhangs im Windfang einer solchen Kneipe auf seinen Armen ausbreitete, war gradezu jugendlichem Vorwitz geschuldet. Keinesweg irgendeiner Angst vor den rauen Gesellen, die sich dort volllaufen ließen.

      Er klemmte sich also an die Theke. Am liebsten so, dass er über den Rand seines Glases hinweg die Schänke im Blick

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