Скачать книгу

XXV

Erster Teil

      I

      als er noch kein Sohn war, als sein Vater noch kein Vater war, als Vaters Vater noch kein Vater war, und so weiter ins Unendliche, bis zu einem ungeborenen Jemand

      II

      Der Sohn erlaubt seinem erotisch-touristischen Abenteuer keine Priorität vor dem Sterben des Vaters, also unternimmt er gegenwärtig alles in seiner Macht Stehende, um so bald als möglich in Vaters Nähe zu sein, bevor Vater seine Seele aushaucht.

      Die Nachricht, hingekritzelt auf eine flache Schokobonbonschachtel der Marke »Kallirrhoë«, legt er unter das Kopfkissen seiner Reisegefährtin (seiner zukünftigen Frau, der Mutter seiner zukünftigen Tochter), ohne sie zu wecken, ohne ihren Sommerurlaub zu stören … er packt seine Sachen, verlässt leise das Hotelzimmer, macht sich auf den Weg zum Inselflughafen.

      III

      Reglos blickt Vater durchs Fenster. Dahinter, draußen, geschieht nichts. Vater betrachtet (scheinbar) eine spannende Szene. Der Sohn legt lautlos die Zeitung auf den Nachtkasten und starrt in die himmlische Leere, in der Vater Vorgänge sieht. Er wird nie wieder lesen – denkt der Sohn. Seine Erinnerung geht beflissen ins Vergessen über, zunächst wie ein Unterseeboot, dann wie ein unterirdischer Fluss, der niemals das Tageslicht erblickt hat. Nicht Vater verschwindet, es verschwindet земной шар, die Erdkugel, es verschwindet sein Sohn, er löst sich auf, als hätte er niemals existiert.

      IV

      Die Lider öffnen sich über Vaters Augen, als der Sohn ihn ruft, der Sohn erblickt Vaters blicklose Augen.

      Der Sohn sagt: »Vater«, und die Augen öffnen sich auf Anhieb. Sie sind starr, der Sohn nimmt an, dass sie nichts sehen, oder dass Vater nicht sieht, was seine Augen betrachten.

      Versteht Vater, was der Sohn zu ihm sagt, fühlt er etwas, hat er Schmerzen, hat er Schmerzen – das fragt sich der Sohn, während er zum Vater spricht, sofern er es überhaupt wagt zu sprechen.

      Die Augen sind aus demselben Material wie das Gehirn. Das sichtbare Gehirn – das weiß der Sohn. Was registriert das Gehirn, dessen blicklose Augen eine Gehirn-Insel in einem Blut-Meer sind?

      V

      Vater haucht seine Seele aus. Der Sohn spürt Erleichterung, und dann – Trauer. Die unerwartete Abfolge widersprüchlicher Gefühle war auch dem Vater bekannt – denkt der Sohn. Das ist der Trost, mit dem er sich selbst bestraft!

      Zwischen den Stimmungen: Erleichterung und Trauer (diese setzt Ströme unkontrollierter Erinnerungen in Bewegung), erstreckt sich, undeutlich, Gleichgültigkeit, eine gewisse Leere – daran denkt der Sohn auch.

      Erinnerte Szenen1,2,3 treten dem Sohn aus dem Vergessen heraus vor die Augen. Bilder der Erinnerung, verwurzelt im Augenlicht. Denn Vergessen ist nicht Verschwinden, sondern Verstecken.

      1 Die hohle Innenfläche von Vaters rechter Hand – geschützt durch eine Kette aus vier gestauchten, knotigen Fingern, abgeschirmt durch den Damm des anliegenden Daumens – nahm den erbrochenen Inhalt auf: das halbverdaute Frühstück des Sohnes. Als der Bus, mit dem sie fahren, stehen bleibt, verwandelt der Vater durch eine furiose tektonische Erschütterung die Gebirgslandschaft seiner Hand in eine diluviale Ebene und lässt den erbrochenen See aus Schlamm in die nächste Mülltonne gleiten.

      Wie alt muss der Sohn gewesen sein, wenn der Inhalt in Vaters Handfläche damals so tief war, dass er sein Gesicht darin hätte versenken können? Wie alt muss der Sohn gewesen sein, wenn der Inhalt seines Magens restlos in Vaters mittelgroßer Hand Platz hatte?

      2 Der Sohn hat seine Arme um Vaters Hals gelegt, die gekreuzten Hände zu Fäusten geballt – darin hält er die weichen Zungen von Vaters Winterschuhen gefangen. Der Körper des Sohnes wiegt sich hin und her, von Zeit zu Zeit hüpft er in die Höhe, weil der Boden, über den Vaters nackte Füße gehen, uneben, steinig und rutschig ist, und das kalte Wasser, das Vaters Waden bespritzt, schnell fließt. Rundherum ist alles Rauschen, und hätte der Sohn seine Lippen nicht direkt an Vaters Ohr gelegt, müsste er schreien, damit Vater ihn hören kann. Der Vater trägt den Sohn und watet durch den Fluss, um dem Sohn die Höhle am anderen Ufer und Schwärme von Fledermäusen zu zeigen.

      3 Vor dem Morgengrauen weckt Vater den Sohn auf und nimmt ihn mit in den Garten, zu den ersten Frühlingsblättern auf dem Birnenbaum. In der Morgendämmerung zeigt Vater dem Sohn einen Tautropfen. Sie betrachten ihn und warten darauf, dass er in der aufkommenden Hitze verdunstet. Das vergisst der Sohn niemals, etwas, das weder Erinnerung noch Traum ist, sondern etwas, das er sich selbst ausgedacht hat, etwas, das außerhalb seines Verstandes niemals und nirgends stattgefunden hat. Ganz deutlich sieht er den Tautropfen auf dem Birnenblatt, und im Tropfen wie in einem Wölbspiegel, den Vater und sich selbst, Kopf an Kopf, und einen Teil des Gartens hinter dieser zweiköpfigen Gestalt, und er sieht zu, wie all das, auf den Kopf gestellt, allmählich dem stärker werdenden Licht weicht.

      Gutta roris in folio piri – schreibt der Sohn ins Register seiner Erinnerung, diesen Eindruck legt er zwischen die Blätter seines Fabulariums ab.

      Wann hat er sich zum ersten Mal dieses Bild ausgedacht, das er jetzt in seiner Erinnerung mit sich trägt wie seine wirklichste Wirklichkeit? – das hat der Sohn vergessen.

      VI

      Als Vaters Gehirn explodierte, explodierte Vaters Erinnerung, Vaters Vergessen4 – pflegte der Sohn zu sagen.

      Bevor Vater ins Koma fiel, gab es Augenblicke, in denen er den Sohn fragte: »Wer bist du?«

      4 Das Vergessen, das Potenzial der Erinnerung des Menschen, ist nicht nur das Zentrum seines Bewusstseins, sondern auch das seiner Existenz, aber darüber hinaus auch unbegreiflich mehr – es übersteigt die Grenzen des Selbst!

      [Ich befinde mich niemals in meinem eigenen Vergessen (das Vergessen ist allgemein).]

      Geisteskranke/Heilige/Tote erfahren ein erweitertes Vergessen. Sie treten über die Schwelle. Aber nur die Toten gehen diesen Weg zu Ende und ohne sich zu verlaufen.

      VII

      In der Erinnerung ist alles zeitgleich. In der Erinnerung verschwinden Zeit- und Herkunftsunterschiede. Zwischen dem Wachzustand und dem Schlaf gerät der Unterschied, in der Erinnerung, ins Vergessen.

      So wie der Sohn in den Untiefen seiner Erinnerung den Vater und sich selbst sieht, wie sie im ganzen Haus nach Essen suchen, Schränke aufmachen und im Bad so wie an anderen zur Essensaufbewahrung unpassenden Stellen nachsehen, bis Jela, Vaters Helena, zurückkehrt und ihnen sagt, dass sie die Glasschüssel mit dem fertigen Mittagessen am Vormittag zerbrochen habe – ebenso klar sieht der Sohn in den Untiefen seines Schlafes sich selbst und noch einige Menschen an Vaters Grab stehen, das Grab ist namenlos und flach, Vaters rechte Hand ragt aus dem darüber geschütteten Kiesel heraus. Niemand sonst bemerkt, dass Vaters Hand sich bewegt, und niemand sonst kann irgendwo tief im Inneren seines Gehörs die Antwort des Vaters auf die Frage hören, die zu stellen der Sohn keine Zeit mehr hat, aus den Untiefen seines Vergessens. »Nein, ich bin nicht tot«, lautet die Antwort, die der Frage zuvorkommt, denn Vater weiß, was den Sohn quält, noch bevor der Sohn es ausspricht, noch bevor der Sohn es auch nur denkt.

      VIII

      Vater im Traum des Sohnes. Er spricht zu ihm in einer Sprache, die er nie gesprochen

Скачать книгу