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ineinander gefügte Fingergelenke. „Das ist es also, was deine kleine Germaine unter Tränen geäußert hat: In der Heimat gewöhnt man sich an jeden Zustand und an jede Lebensform; aber an die Fremde gewöhnt man sich nie …”

      Anna Nikolajewna, deren kluges, müdes und zartes Antlitz in der Dämmerung vor Marions Augen zu verschwimmen begann – auch ihre Stimme klang nun, als käme sie von sehr weit her –, Anna Nikolajewna, leise mit den elfenbeinfarbenen Spitzen raschelnd, die über ihre Handgelenke fielen, sagte: „Seitdem ich diese überraschenden Worte gehört habe – denn Sie werden ja begreifen, mon enfant, daß dies alles für mich überraschend kam –, höre ich nicht auf, darüber nachzusinnen, wieviel Wahrheit und wieviel Irrtum sie enthalten. Denn ohne Frage mischen sich Wahrheit und Irrtum in den aufgeregten Reden meiner kleinen Germaine. Am Ende meiner langen und übrigens oft recht bitteren Überlegungen bin ich zu dem Resultat gekommen: Wahrscheinlich habe ich wirklich Unrecht getan, als ich das Baby wie ein kleines Paket über die russische Grenze schaffte. Nun hat das Kind Heimweh, ohne die Heimat je gekannt zu haben – und das muß eine besonders schlimme Sorte von Heimweh sein … Sie will zu ihrer Nation zurück … Aber ich kann nicht!!” Dies stieß sie mit einer klagenden, fast jammernden Heftigkeit hervor, wie Marion sie noch niemals von ihr gehört hatte. „Ich werde niemals nach Rußland zurück können. Es ist zuviel Grauenhaftes dort geschehen. Man hat meinen Mann und zwei von meinen Brüdern dort umgebracht, und mein Vater ist im Elend gestorben. Die Erinnerungen sind unerträglich … Die Erinnerungen würden mich sicherlich töten …” Dabei fuhr sie sich mit einer sonderbar fliegenden, huschenden, angstvollen Bewegung über die Stirn, als müßte sie etwas Böses wegscheuchen, das sich dort niedergelassen hätte. Nach einer Pause sagte sie noch: „Aber freilich – die kleine Germaine hat ja keine Erinnerungen …”

      Marion wurde etwas schaurig zu Mute in diesem Raum, wo sie sich immer so wohl gefühlt hatte. Anna Nikolajewna, die niemals klagte, – nun überwand sie ihren Stolz und ließ Jammertöne hören. Wieviel mußte sie ausgestanden haben, daß es soweit kam! Was für lange Prüfungen waren ihr zugemutet worden!

      ‚Werde ich auch einmal sein wie diese?’ fragte sich Marion. ‚So resigniert? So unendlich traurig und müde?’ Und sie tröstete sich: ‚Aber bei mir liegt alles ganz anders. Unser Fall liegt anders. Diese russischen Aristokraten und Intellektuellen haben sich gegen die Zukunft gestellt. Wir sind in die Verbannung gegangen, weil wir für das Zukünftige sind, gegen den Rückschritt. Unser Exil kann kein Dauerzustand sein. Diese Russen haben das Exil als Dauerzustand auf sich genommen. – Oder irre ich mich? Täuschen wir uns alle? Sind auch wir in unvernünftiger Opposition gegen etwas, was Zukunft hat, oder doch zukunftsträchtige Elemente? …’ Diese Zweifel taten sehr weh.

      Anna Nikolajewna schien ihren stummen Monolog belauscht zu haben; denn sie sagte:

      „Auch ich habe von Rückkehr geträumt. Wer hätte nicht von Rückkehr geträumt. Aber man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan. Für immer, Marion: verstehst du mich?” Ihr Blick wurde plötzlich fast drohend. „Die Entwicklung in der Heimat geht weiter; wir haben keinen Anteil mehr an ihr. Wir sind Fremde geworden. Wir können nicht mehr heim, weil wir keine Heimat mehr haben.” Sie saß sehr aufrecht da, die Hände, über die vergilbte Spitzen fielen, strenge im Schoß gefaltet. „Schauen Sie mich an!” rief sie und zeigte das Gesicht einer Greisin – plötzlich nackt, als hätte sie sich einen schonenden Schleier von den Zügen gerissen. „Regardez-moi, Marion!” Und sie hob mit einer theatralisch klagenden Gebärde die hageren Hände. „Me voilà, une vieille femme … une femme fatiguée … Fatiguée …”, wiederholte sie und ließ den Kopf nach hinten sinken. Sie saß ein paar Sekunden lang regungslos, feierlich erstarrt in ihrer tragischen Pose.

      Marion aber schwor sich: So will ich nicht werden. So nicht. Vielleicht warten furchtbare Dinge auf mich; sehr wohl möglich, daß sich Schlimmes für mich vorbereitet. Aber ich will keinesfalls als alte Frau in einem engen Pariser Zimmer die Hände recken zu einer Gebärde des Jammers, die nicht einmal mehr die Kraft hat, eine Gebärde der Anklage zu sein. Ich will mir auch nicht von meinem Kinde sagen lassen, daß ich ihm die Heimat gestohlen habe. Im Gegenteil: was ich hören möchte von meinem Kinde, das sind Worte des Dankes dafür, daß wir ihm jetzt eine bessere Heimat erkämpfen …’

      Während Marion solches dachte und sich im Herzen gelobte, hatte Anna Nikolajewna sich gefaßt. Ihre Haltung war nun wieder damenhaft zusammengenommen. „Mein liebes Kind”, sagte sie, und hatte noch einmal die nervös wischende Geste, mit der sie sich über die Stirne fuhr, „entschuldigen Sie: das war unmanierlich. Übrigens sind Sie selber ein wenig Schuld daran, daß ich heute so sentimental und unbeherrscht bin. – Ja ja”, behauptete sie mit neckischem Nachdruck und hob scherzhaft streng den Zeigefinger, als wäre sie ihrem Gast hinter eine harmlos drollige kleine Verfehlung gekommen, „jaja, mon enfant, ich habe mich doch ein wenig aufgeregt, als ich erfuhr, daß auch Sie … wie soll ich mich ausdrücken? –: nun, daß Sie diesmal nicht ganz freiwillig nach Paris gefahren sind …”

      „Ich hätte genau so gut nach London reisen können”, bemerkte Marion, nicht besonders freundlich. Daraufhin Madame Rubinstein, immer noch neckisch und insistent: „Aber Sie hätten nicht genau so gut in Berlin bleiben können. Oder irre ich mich?”

      „Nein”, sagte Marion. „Weil ich dort erstickt wäre.” Anna Nikolajewna zuckte müde die Achseln. „Das haben wir alle einmal geglaubt – daß wir zu Hause ersticken müßten, wenn dort Leute regieren, die uns nicht gefallen.” Und nach einer Pause, die ziemlich lange dauerte, fragte sie sanft: „Haben Sie auch wohl bedacht, was das bedeutet – das Exil?”

      „Mir scheint, daß ich es wohl bedacht habe”, versetzte Marion trotzig und knackte mit den lockeren Gelenken ihrer langen Finger.

      Die Russin sprach aus der Dämmerung, mit melodisch gedämpfter Stimme, als erzählte sie ein Märchen für die lieben Kleinen: „Es ist hart, das Exil, mon pauvre enfant. Es werden Stunden kommen, da Sie sich der Worte erinnern, die ich Ihnen jetzt sage. Das Exil ist hart. Man ist als Emigrant nicht viel wert. Man ist gar nicht sehr angesehen. Die Leute wollen uns nicht – es macht kaum einen Unterschied, ob man politisch mit uns sympathisiert; ob man die Gründe, die uns zur Emigration bewegt haben, ablehnt, oder ob man sie billigt. Man verachtet uns, weil wir nichts hinter uns haben. In dieser kollektivistischen Zeit muß der Einzelne etwas hinter sich haben, damit er achtenswert scheint. Für uns gibt es nicht einmal ein Konsulat oder eine Gesandtschaft, an die wir uns wenden könnten. Wir haben gar nichts. Deshalb verachtet man uns – und ganz besonders wenig schätzt man uns hier in Paris, dieser klassischen Emigranten-Stadt, die unserer müde ist, weil sie uns zu gut kennt. Hier treffen sich ja alle, schon seit Jahrzehnten: die entthronten Könige und die Arbeiterführer; die Ungarn und die Russen; die italienischen Exilierten und die spanischen; die Armenier, die Jugoslaven, die Griechen, Türken, Bulgaren, Südamerikaner – und nun also auch noch die Deutschen. Unterhalten Sie sich einmal mit einem dieser Heimatlosen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in Paris herumsitzen! Fragen Sie einmal irgendeinen von diesen, was er hier erlebt und ausgestanden hat! Es wird interessant für Sie sein, liebes Kind …”

      „Ich habe gerade gestern Nacht einen beobachtet”, sagte Marion. „Diesen ungarischen Grafen, der einmal Ministerpräsident war und alle seine Güter weggeschenkt hat. Er saß neben uns im Café Select und spielte Schach mit sich selber.”

      „Sie hätten ihn anreden sollen. Manchmal ist er gesprächig, und dann erzählt er von kleinen und von großen Enttäuschungen; von allerlei Erniedrigungen, die er tragen mußte – und früher war er ein so großer Herr! Es wäre ungeheuer aufschlußreich für Sie gewesen. Denn Sie sind ja noch eine Anfängerin.”

      Da Marion schwieg und nur fragend schaute, erklärte Anna Nikolajewna ausführlicher, was sie meinte: „Sie sind noch eine Anfängerin in diesem harten, quälenden Geschäft – wenn ich einen so tragischen Lebens-Zustand wie das Exil als ein ‚Geschäft’ bezeichnen darf. Ihr seid noch ahnungslose Dilettanten!” rief die Russin hochmütig. „Es gibt tausend kleine Erfahrungen, die sich kaum beschreiben lassen, unzählige Qualen der verschiedensten Art, viele Schmerzen, immer betrogene Hoffnungen – Monotonie und Ruhelosigkeit des unbehausten Lebens – ein Heimweh, das niemals aufhört

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