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Die Schwachen zuerst. Reimer Gronemeyer
Читать онлайн.Название Die Schwachen zuerst
Год выпуска 0
isbn 9783532600863
Автор произведения Reimer Gronemeyer
Жанр Социология
Издательство Автор
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke/Agentur für Autoren und Verlage, www.aenneglienkeagentur.de
Copyright © Claudius Verlag, München 2021
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021
ISBN 978-3-532-60086-3
Immer wieder das weisse Papier
und das Wenden dessen, was
noch nicht geschrieben steht,
viel leichter wäre es doch,
ich faltete einen Flieger
würfe ihn aus dem Fenster
und ginge ein wenig spazieren
bis er als beglückender Einfall
vor meinen Füssen wieder landete
und so entfaltete ich dann ein Rätsel:
«Nanu, noch immer ein weisses Papier?»
Immerhin: Den Kopf, den hätte ich gelüftet.
Jürg Halter1
Inhalt
Erste Lektion Was lernen die Schwachen aus dem Lockdown? Corona als Trainingslager
Vierte Lektion The Great Reset: Wieder bei null anfangen
Fünfte Lektion Endlich ein schwacher Neuanfang Was kommt nach der Leistungsgesellschaft?
Die Schwachen wissen es
Gestern wurden über 50.000 Tote im Zusammenhang mit der Pandemie gemeldet. Bei uns in Deutschland, im Januar 2021. Wie viele werden es noch? Der Bundespräsident stellte im Schloss Bellevue eine dicke gelbe Kerze ans Fenster. Ein Totengedenken, eine stille Geste. Mir hat das gefallen. Wortlos. Einfach. Es ist ein solches Stimmengewirr um COVID-19. Ein Überdruss ist zu spüren. Ein Überdruss an dem Dauerthema Corona. An den Maßnahmen. An der Stilllegung des Lebens. An der Profilsucht von Politikern, Wissenschaftlern, Virologen. Gibt es zu Corona noch irgendetwas zu sagen, was noch nicht gesagt ist?
Wenn es doch endlich das Gespräch wäre, das diese deutsche Gesellschaft so dringend brauchte – das Gespräch über Lebensfragen: In welche Richtung wollen wir jetzt gehen? Sollen wir so weitermachen wie bisher? Beabsichtigen wir, den Tanz auf dem Vulkan fortzusetzen, der diesen Planeten in den Abgrund der Klimakatastrophe reißen wird? Wollen wir die immer tiefere Spaltung der Welt in Reich und Arm hinnehmen? Müssen wir die endgültige Vernichtung der Natur akzeptieren? Vielleicht ist die Pandemie die letzte Chance des homo sapiens, sich auf den Trümmern der alten Welt zusammenzufinden und mit dem großen Palaver zu beginnen: Was nun? Die wichtigen Fragen, die über unser Weiterleben entscheiden, drohen unterzugehen: Im Streit über die richtige Impfstrategie. Im Streit über einen Lockdown für Schulen und Kitas. Im Streit über Grenzschließungen. Im Streit darüber, wie hart der Shutdown sein soll.
Ich fürchte, dass die Gelegenheit zum Umdenken nicht genutzt wird. Am Schluss des Romans „Candide“ lässt Voltaire seinen Protagonisten sagen: „Il faut cultiver son jardin.“ Man muss seinen Garten bebauen. Vielleicht ist das die Antwort auf das Corona-Rauschen? Sich raushalten?
Ich habe meinen Garten nicht bebaut, ich habe ihn gelassen, wie er ist, es ist ohnehin Winter. Ich habe stattdessen versucht, den Blick der Schwachen aufzufangen, ihr Flüstern zu hören. Sind sie das Fieberthermometer für die Pandemiezustände? Sind sie vielleicht die heimlichen Dirigenten? Verkörpern sie die dunkle Seite der Pandemie? Oder die heimliche Hauptstadt der Pandemie? Haben sie uns etwas mitzuteilen, was wir beharrlich übersehen? Sind sie Objekte unserer Versorgung oder vielleicht die Lichtsignale, die zu anderen Ufern locken?
ERSTE LEKTION
Was lernen die Schwachen aus dem Lockdown?
Corona als Trainingslager
Die Schwachen zuerst: Das ist doppeldeutig. Sind die Schwachen die ersten Opfer in Krisen? Oder kommt alles darauf an, die Schwachen zuerst zu schützen, weil sich die Humanität und Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft daran misst, wie sie mit ihren Schwachen umgeht?
Revolution der Schwachen
Die Coronakrise ist ein Trainingslager. Sie bereitet uns auf die Krisen vor, die mit der Klimakatastrophe auf uns einstürzen werden. Die Coronakrise hat eine große Hilflosigkeit in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Hospizen deutlich gemacht. Über Nacht waren die Hilfsbedürftigen isoliert. Was wird die ungleich größere Klimakrise für die Schwachen bedeuten? Wir lernen, dass der Ausnahmezustand über Nacht zum Alltag werden kann. Und dann kann es ganz schnell nur noch um das nackte Überleben gehen. Und wenn es nur noch um das nackte Überleben geht, dann werden die Schwächsten zuerst über die Klinge springen. Oder? Vielleicht geht es auch ganz anders? Aus einer in Trümmern liegenden Gesellschaft könnte endlich, endlich die Umkehrung erwachsen: Wir würden lernen, dass die Schwachen zum Maßstab für das Wohl der Menschen werden. Wir würden begreifen, dass die aufgeblasene Herrschaft von Geld, Konkurrenz und Macht an ihr Ende gekommen ist. Schluss wäre dann mit der hochgerüsteten Zerstörung: Feiern wir den Grashalm, der durch den Beton bricht. Jetzt, mit und nach Corona, können wir uns vorstellen, wie eine Welt aussieht, die in Trümmern liegt. Jetzt, mit und nach Corona, müssen wir über die Alternativen nachdenken und auf diese Alternativen hoffen. Jetzt kann es heißen: die Schwachen zuerst. Sie weisen uns die Richtung. Sie sind das Fieberthermometer, sie sind vielleicht Kassandra und Rettung zugleich. Der Lockdown stellt uns ruhig. Der Lockdown lähmt uns. Der Lockdown ist die Stunde der musischen Schwäche. Nicht die Stunde der Eroberer, sondern die Stunde der Gelassenen, die Stunde