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vorherbestimmten, von den Naturgesetzen geregelten Weise ab, wie in einem mechanischen Uhrwerk. Die Idee eines deterministischen Universums ist uns vom Weltbild der Aufklärung her vertraut. Wir verbinden sie mit Denkern wie Isaac Newton, Pierre Laplace und, im 20. Jahrhundert, Albert Einstein. In einem deterministischen Universum gäbe es anscheinend keinen Platz für eine freie Wahl. Alles, was wir tun, wäre lange vor unseren Handlungen vorherbestimmt worden. Dass Sie jetzt gerade diese Zeilen lesen, wäre eine zwangsläufige Konsequenz aus dem anfänglichen Zustand der Welt zum Zeitpunkt des Urknalls und der Naturgesetze. Auch Ihre Entscheidung, welcher Partei Sie bei der nächsten Wahl Ihre Stimme geben werden, wäre nicht weniger vorherbestimmt als die nächste vollständige Sonnenfinsternis in Deutschland. (Sie soll, falls es Sie interessiert, am 3. September 2081 stattfinden.)

      Doch nicht nur der Determinismus gefährdet den freien Willen. Selbst wenn das Universum nicht deterministisch ist und die Zukunft tatsächlich offen, heißt das nicht automatisch, dass es in unserer Hand liegt, wie wir uns entscheiden. Unsere Entscheidungen könnten stattdessen ein Produkt des Zufalls sein oder durch Faktoren verursacht werden, über die wir keine Kontrolle haben, wie etwa durch unterbewusste Zustände unseres Gehirns. In den letzten Jahren haben immer mehr Wissenschaftler behauptet, der freie Wille passe nicht in unser modernes wissenschaftliches Weltverständnis. Ihrer Ansicht nach werden die Entscheidungen der Menschen auf rein physikalische Weise durch die neuronale Tätigkeit unseres Gehirns hervorgebracht; und es ist unklar, welche Rolle intentionale Entscheidungen dabei spielen sollen. Die Zitate am Anfang der Einleitung veranschaulichen diese Auffassung. Wenn alles, was in der Welt geschieht, durch physikalische Gesetze bestimmt ist und wir Teil dieser Welt sind, dann ist es kaum plausibel, dass unsere Entscheidungen tatsächlich unsere Entscheidungen sind: „Wir haben nicht die Freiheit, die wir zu haben glauben“, wie Sam Harris es formuliert.

      Selbst Geisteswissenschaftler haben die Gefahr erkannt. Der Historiker Yuval Noah Harari zum Beispiel schreibt:

      „Der Humanismus steht jetzt vor einer existenziellen Herausforderung und die Vorstellung von einem ‚freien Willen‘ ist in Gefahr. Wissenschaftliche Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns legen nahe, dass unsere [Gedanken und] Gefühle keine geistigen Qualitäten sind, die allein dem Menschen zukommen, sondern biochemische Mechanismen, die bei allen Säugetieren und Vögeln der Entscheidungsfindung dienen, indem sie die rasche Berechnung von Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeiten ermöglichen. […] Die Humanisten dachten zwar fälschlicherweise, dass unsere Gefühle einen geheimnisvollen ‚freien Willen‘ widerspiegeln. Aber in der Praxis war der Humanismus bisher durchaus sinnvoll. Denn obwohl unsere Gefühle nichts Magisches an sich haben, waren sie bisher das beste Verfahren zur Entscheidungsfindung, das es im Universum gab. […] Selbst wenn die katholische Kirche oder der sowjetische KGB mich jeden Tag und jede Minute ausspionierten, fehlten ihnen doch das biologische Wissen und die Rechenkapazitäten, die man benötigt, um die biologischen Vorgänge zu berechnen, die meine Wünsche und Entscheidungen formen. […] Inzwischen aber haben die Kirche und der KGB ihren Platz für Google und Facebook geräumt [die das menschliche Verhalten mithilfe der Wissenschaft und großer Datenmengen vorhersagen können], und damit verliert der Humanismus seine praktischen Vorteile.“1

      Kurzum, das Bild vom Menschen als einem handelnden Wesen mit dem Vermögen freier Wahl steht vor dem Aus. Der freie Wille gehört allem Anschein nach zu einer überholten Weltsicht.

      Ziel dieses Buches ist es, eine Strategie zu entwickeln, mit der man den wissenschaftlichen Herausforderungen für den freien Willen begegnen kann. Ich möchte ein Bild des freien Willens verteidigen, welches trotz der ungeheuren Beachtung, die diese Thematik erfahren hat, weitestgehend unbemerkt geblieben ist. Dieses Bild fasst den freien Willen als ein „höherstufiges“ Phänomen auf: als ein Phänomen, das nicht auf der Ebene der Physik zu finden ist, sondern auf der der Psychologie, insbesondere auf der Ebene intentionaler Akteure, die wie wir zielgerichtet handeln. Der freie Wille, so werde ich argumentieren, befindet sich in der Gesellschaft anderer Phänomene, die aus der physikalischen Welt hervorgehen oder emergieren, die man mit den Begrifflichkeiten der physikalischen Grundlagenwissenschaft aber nur unzulänglich verstehen kann. Vertraute Beispiele von emergenten Phänomenen sind die lebenden Organismen und Ökosysteme, mit denen sich die Biologie beschäftigt, die geistigen Phänomene, die Gegenstand der Psychologie sind, sowie die Institutionen, Kulturen und der Markt im Bereich des Sozialen. All diese Phänomene emergieren zwar aus physikalischen Prozessen, wir müssen jedoch aus der Physik heraustreten, um sie zu verstehen. Würden wir sie nur durch die Linse der physikalischen Gesetze betrachten, die das Verhalten von Teilchen und Molekülen bestimmen, wäre unser Erkenntnisgewinn gering.

      Skeptiker der Willensfreiheit gehen typischerweise von der Prämisse aus, dass der freie Wille eine bestimmte Eigenschaft E erfordere, wobei E folgendes sein kann:

      •intentionales, zielgerichtetes Handeln;

      •alternative Möglichkeiten, zwischen denen die handelnde Person wählen kann;

      •die Verursachung der resultierenden Handlungen durch mentale Zustände dieser Person, insbesondere durch ihre Intentionen.

      Sodann behaupten die Skeptiker, die Physik oder eine andere Grundlagenwissenschaft zeige, dass es unter den fundamentalen Eigenschaften der Welt eine Eigenschaft wie E nicht gebe. Vielleicht handele es sich bei E lediglich um eine zweckmäßige Fiktion unseres vorwissenschaftlichen Denkens – um einen bloßen „Alltagsbegriff“. Wenn E also für die Willensfreiheit unabdingbar ist, dann gibt es der Wissenschaft zufolge keinen freien Willen.2

      Verschiedene Argumente gegen die Existenz des freien Willens nehmen verschiedene Substitutionen für E ins Visier. Einige behaupten, intentionales Handeln sei eine Illusion, andere, dass es in einer deterministischen Welt keine alternativen Möglichkeiten geben könne. Wieder andere beharren darauf, dass unsere Intentionen niemals unsere Handlungen verursachen: Wenn ich handle, so ist es mein Gehirn, das mich zu meinem Tun veranlasst.3 Allen diesen Argumenten ist gemeinsam, dass sie der Eigenschaft E keinen Platz in einer wissenschaftlichen Weltsicht einräumen.

      Dem werde ich entgegnen, dass es durchaus wahr sein mag, dass es auf der fundamentalen physikalischen Ebene keine Eigenschaft wie E gibt. Daraus folgt jedoch nicht, dass es E überhaupt nicht gibt. Der freie Wille und seine Voraussetzungen – intentionales Handeln, alternative Möglichkeiten und die kausale Kontrolle über unsere Handlungen – sind höherstufige Phänomene. Deshalb sind sie aber nicht weniger real. Wenn wir auf der physikalischen Ebene nach dem freien Willen suchen, dann suchen wir schlicht am falschen Ort. In den folgenden Kapiteln werde ich diese Erwiderung im Einzelnen entwickeln. Einstweilen möchte ich die Kernidee kurz umreißen.

      Beginnen wir mit dem Begriff der Ebenen beziehungsweise Stufen.4 Tatsachen über die Welt weisen, ganz generell und nicht nur diejenigen, die das menschliche Handeln und den freien Willen betreffen, eine Schichtung in Ebenen auf. In den Wissenschaften entsprechen „Ebenen“ den verschiedenen Weisen, die Welt zu beschreiben. Um beispielsweise die grundlegenden Naturgesetze zu verstehen, machen wir von fundamentalen physikalischen Beschreibungen Gebrauch, wobei wir uns auf die besten physikalischen Theorien stützen. Wir verwenden Begriffe wie Teilchen, Felder und Kräfte und formulieren eine Vielzahl von Gleichungen, die beschreiben, wie sich physikalische Systeme im Laufe der Zeit entwickeln. Wenn wir hingegen chemische und biologische Phänomene verstehen wollen, müssen wir über die Grundlagenphysik hinausgehen. Moleküle, Zellen und Organismen weisen Strukturen und Regularitäten auf, die nur auf einer anderen Beschreibungsebene, unter Verwendung eines anderen Begriffsrepertoires als dem der Grundlagenphysik, erfasst werden können. Selbst eine so einfache Eigenschaft wie Azidität (d.h. der Säuregehalt) kann, wie Wissenschaftstheoretiker betonen, nicht befriedigend beschrieben werden, wenn lediglich die Begriffe der Grundlagenphysik zur Verfügung stehen.5 Es gibt keine leicht beschreibbare Konfiguration von fundamentalen physikalischen Eigenschaften, die genau der chemischen Eigenschaft der Azidität entspräche. Es gibt insbesondere kein „Übersetzungsschema“, mit dem sich die Rede von Azidität vollständig in die Rede von Teilchen, Feldern und Kräften übertragen ließe. Damit wir über Azidität angemessen sprechen können, benötigen wir die Begriffe und Kategorien der Chemie. Dabei

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