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die die Salzburger in unnachahmlich österreichisch-bürgerlicher Manier »das spinnerte Krezl« nannten. Doch ganz verabschieden konnte sich Trakl nie von der bürgerlichen Existenz. Nach seinem Schulabbruch begann er eine Ausbildung als Pharmazeut, ein gerade noch angesehener Beruf, und nach seinem dreijährigen Studium in Wien und einem einjährigen Wehrdienst versuchte er beständig, Fuß zu fassen und trotz seiner neurotischen Angstzustände einen Arbeitsplatz zu halten – ohne Erfolg. Beispielsweise trat der junge Dichter Ende 1912 eine Stellung im Arbeitsministerium in Wien an, nur um nach seinem ersten Tag dort das Entlassungsgesuch einzureichen.

      All den Kämpfen Trakls mit bürgerlicher und Bohème-Existenz, mit Drogensucht, Angstzuständen, Halluzinationen und Selbstmordgedanken lag ein tiefgehendes psychisches Leiden zugrunde, das bildreichen und ergreifenden Ausdruck in seinen Gedichten findet und doch ungreifbar bleibt – es sind jene unwiederbringlichen »Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens«, von denen Rilke spricht, und die Trakls Lyrik so einmalig, fremdartig und doch zutiefst anrührend machen: »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, wie es in Trakls In ein altes Stammbuch heißt.

      »Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession«, schreibt Johann Wolfgang von Goethe in seinem autobiographischen Meisterwerk Dichtung und Wahrheit, und der Leser Trakls kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass dieser Ausspruch auch auf die Lyrik des Salzburgers zutreffen könnte, die den Charakter eines intimen, wenn auch nur schwer fassbaren Bekenntnisses hat. Doch was bekennt der Autor hier?

      Trakls Gedichte durchzieht ein großer Schmerz und das Bewusstsein einer ebenso überwältigenden Schuld: »Groß ist die Schuld des Geborenen. Weh, ihr goldenen Schauer / Des Todes / Da die Seele kühlere Blüten träumt«, heißt es in Anif. Eng verbunden mit diesem allumfassenden Schuldig-Sein, und damit auch mit dem Motiv des Todes und des ewig Sterbenden, ewig Vergehenden, das so prominent in Trakls Lyrik ist, ist das Bild der »Schwester«, die die Verse des Dichters von Anfang bis ganz zum Ende durchwandert wie ein Geist oder ein blasser Engel. »Karfreitagskind« nennt Trakl diese Gestalt in An die Schwester, deren »Mund in schwarzen Zweigen flüstert« (Seele des Lebens); noch in Trakls letztem Gedicht Grodek ist sie es, deren »Schatten durch den schweigenden Hain« schwankt, um »zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter«. Es gilt für das gesamte Werk des Salzburger Dichters, was er in Geistliche Dämmerung schreibt: »Immer tönt der Schwester mondene Stimme / Durch die geistliche Nacht.« Zuweilen erscheint es tatsächlich so, dass die Schwester das »Tönenende« in Trakls Lyrik repräsentiert: Sie ist Tod- und Lebenbringende, sie gibt Halt und stürzt ins Unheil, sie tritt auf als Dämon und Heilige, Kind und Verführerin und repräsentiert ewige Verbundenheit wie stete Trennung.

      »Die Schwester« ist keineswegs die einzige immer wiederkehrende Gestalt in Trakls Lyrik; da sind die Mutter, der Jüngling, der Einsame, der Fremdling, der Engel, das Wild, um nur einige Protagonisten in Trakls großem lyrischen Drama zu nennen, die alle verschieden und doch alle dieselben sind. Aber »die Schwester«, das »Karfreitagskind«, umgibt eine ganz besondere Aura, nicht nur, aber auch, weil wir ihre Spiegelung in Trakls Leben wohl am deutlichsten wiederfinden. Es handelt sich dabei um die jüngste Schwester des Dichters, Margarethe, genannt Grete, die unter all ihren Geschwistern Georg selbst nicht nur äußerlich am ähnlichsten war. Sie war diejenige Person, zu der der einsame Adoleszente wohl die engste Bindung knüpfte – eine Bindung, die berühmt-berüchtigterweise nicht rein geschwisterlicher Natur bleiben sollte. »Im Park erblicken zitternd sich Geschwister«, heißt es in Traum des Bösen, und in Passion wird die »Dunkle Liebe / Eines wilden Geschlechts« heraufbeschworen. Der Inzest mit Grete, der wohl irgendwann in der Zeit der Adoleszenz zum ersten Mal vollzogen wurde, war vielleicht nicht der einzige, aber doch der machtvollste Dämon, der Trakl umtrieb; vermutlich verschärfte sich sein Schuldbewusstsein, weil er seine Schwester spätestens während des gemeinsamen Jahres in Wien 1909 mit Drogen in Kontakt brachte, eine Sucht, die auch sie nicht brechen würde können.

      Diese »große Schuld« Trakls lieferte zumindest einen Interpretationsansatz für die enge Verschränkung von Liebenden und Tod, von Ekel und Geschlechtlichkeit in Trakls Lyrik. Hand in Hand geht die Gestalt der Schwester mit der der Mutter. Diese wiederum steht stets mit Motiven von Klage, Schmerz, Einsamkeit in Verbindung und kann als eine Spiegelung von Trakls eigener, distanzierter Mutter gesehen werden. Sie wird zur Verkörperung des anklagenden Bewusstseins um die Schuld: »Weh der steinernen Augen der Schwester, da beim Mahle ihr Wahnsinn auf die nächtige Stirn des Bruders trat, der Mutter unter leidenden Händen das Brot zu Stein ward.« (Traum und Umnachtung) Gleichzeitig ist sie kaum zu trennen von der liebenden Schwester. »Mutter trug das Kindlein im weißen Mond«, heißt es in Sebastian im Traum; der Mond ist aber auch ein Attribut der Schwester, vor allem dann, wenn sie einen Schimmer von Hoffnung mit sich trägt: »und es hob sich der blaue Schatten des Knaben strahlend im Dunkel, sanfter Gesang; hob sich auf mondenen Flügeln über die grünenden Wipfel, kristallene Klippen das Antlitz der Schwester.« (Offenbarung und Untergang) Das Bild der Schwester, genau wie das der wilden Liebenden, mögen sie auch todgeweiht sein, bringt letzten Endes eine unterschwellige Vitalität in Trakls Verse hinein, wie in Auflehnung gegen die eigene Selbstnihilierung. Die Liebe ist stets dunkel bei Trakl, bleibt an den Ekel des Verfalls und des Todes gebunden, aber gleichzeitig verwandelt ihre Präsenz Tod und Untergang in etwas Sanftes, selbstverständlich Geschehendes, und leise tönt immer die Hoffnung auf ein Wiederauferstehen; Trakls Tote sind nie wirklich tot, sowie seine Lebenden nie wirklich lebendig sind. Seine Lyrik verschmilzt alle Gegensätze, selbst die großen von Leben und Tod und Gut und Böse, zu einem ambivalenten Ganzen, das in sich selbst unbestimmbar bleibt.

      So wie das Bildnis der Schwester Trakls ganzes Werk durchwebt, blieb auch das Leben von Georg und Grete eng verbunden, selbst nachdem die junge Frau 1910, nach dem Tod des Vaters, nach Berlin zog und 1912 eine unglückliche Ehe mit dem um vieles älteren Arthur Langen schloss. Als Grete im März 1914 eine Fehlgeburt erlitt (unheimlicherweise schon zuvor ein oft wiederkehrendes Motiv in Trakls Lyrik), eilte ihr Bruder an ihr Krankenbett; das Ereignis zeichnete ihn schwer. Zuvor hatte der junge Dichter, der 1912 eine zeitweise Anstellung als Militärapotheker in Innsbruck gefunden hatte, zum vielleicht ersten Mal tatsächliche Stabilität und Gemeinschaft im dortigen Kreis um Ludwig von Ficker und den Brenner gefunden, nicht zu schweigen eine Plattform für seine Gedichte. Hier wurde zum ersten Mal die Außergewöhnlichkeit und Genialität von Trakls so befremdlich anderer Lyrik in vollem Ausmaß erkannt. Bis dahin war dem jungen Poeten nur wenig Anerkennung zuteil geworden; vergeblich hatte er versucht, seine frühen Gedichte zu veröffentlichen, und die Aufführungen zweier Dramen aus der Feder des ›spinnerten‹Trakl im heimatlichen Salzburg errangen lediglich Achtungserfolge. 1913 jedoch erschien endlich Trakls erste Gedichtsammlung unter dem Titel Gedichte, und er arbeitete unermüdlich an der Zusammenstellung der zweiten, Sebastian im Traum; der junge Lyriker erlebte einen regelrechten kreativen Schub. Darüber hinaus bot der Kreis um von Ficker, der zu Trakls engstem Freund wurde, dem jungen Mann, der sich so unbehaust fühlte in der Welt und vielleicht sogar in sich selbst, eine Art Zuflucht (und nicht zuletzt auch immer wieder finanzielle Unterstützung). Doch an dem innerpsychischen Leiden Trakls änderte diese Situation nichts; »es ist ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht«, schrieb er in diesem Jahr nieder. Auch weiterhin litt er unter Geldsorgen, seiner Drogensucht und massiven Angstzuständen, was sich nach dem Besuch bei der leidenden Grete in Berlin nur verschärfte.

      Inmitten der sich verschlimmernden persönlichen Krise wurde Trakl dann kurz nach Kriegsbeginn als Medikamentenakzessist eingezogen und erlebte die Kriegswirklichkeit unmittelbar. Als er nach der Schlacht von Grodek allein um die 90 Schwerverwunderte betreuen musste, unfähig, diesen Todgeweihten in irgendeiner Weise tatsächlich beizustehen, zerbrach Georg Trakl. »Ich verfalle recht oft in unsägliche Traurigkeit«, schrieb er an von Ficker Ende Oktober 1914, als er bereits nach einem von Kameraden verhinderten Selbstmordversuch in ein Garnisonshospital eingewiesen worden war. Und doch entstanden zu dieser Zeit große Gedicht, die letzten darunter Klage und Grodek, die er seinem Freund noch kurz vor seinem Tod sandte und in denen Trakl mit dem engen Bilderkosmos, den er aus seinem persönlichen Leiden geknüpft hatte, auf erschütternde Weise nun ein größeres, zugleich konkretes und umfassenderes Leiden in Worte zu bannen wusste. Zwar besingt er auch in früheren Gedichten schon expressionistisch-apokalyptisch den Untergang eines ganzen Geschlechts – denn so empfanden

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