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Gebückt krauchen zehn, zwanzig abgezehrte Gestalten in Fetzen, Säcke hinter sich herschleifend, über Hänge und Schwellen. Sie sieht gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken. Hände wühlen in der schwarzen Aschemasse, befingern Fundstücke, stopfen sie hastig in Säcke. Alma schnappt nach Luft. Drüben erblickt sie eine Gruppe, vielleicht eine Familie, fünf Menschen, die auf Händen und Füßen hügelaufwärts kriechen. Die Kinder rutschen plötzlich ab, wirbeln im Fallen Staub auf, und die ganze Szene versinkt unter einem dunklen Schleier.

      Almas Gedanken rasen. »Das ist ein Film, das geschieht nicht wirklich«, plappert ihr Hirn. »Relax! Relax!«, stößt sie höhnisch aus.

      Wenn sie doch nur ein Wort mit jemandem wechseln könnte! Wenn da bloß eine Stimme wäre, die ihr versicherte, dass alles gut würde – für alle. Der Fahrer vor ihr trommelt im Rhythmus eines aufbrausenden Songs kleine Wirbel auf das Lenkrad. Ja, der ist völlig relaxt, stellt Alma erbittert fest. Ihr kribbelt es in den Fingern, ihn wieder an den Schultern zu packen, um irgendeine Reaktion aus ihm herauszuschütteln. Fest schlingt sie die Arme um ihren Körper – bloß keine unkontrollierbaren Wutreaktionen! Sie lässt den Kopf hängen und starrt auf ihre Knie.

      Die Dämpfe des schwelenden Müllbergs dringen stechend ins Wageninnere. Alma fühlt erneut Übelkeit, die in einer Welle über sie hereinzubrechen droht. Sie schluckt verzweifelt, atmet flach und versucht das Fenster zu schließen. Vergeblich. Nach ein paar Umdrehungen klemmt die Kurbel und eine Öffnung bleibt. Mit zitternden Fingern kramt sie im Rucksack nach einem Taschentuch.

      Ein Schreckensblitz durchzuckt sie, als sie sich wieder aufrichtet. Sie fährt mit einem Aufschrei zurück: Ein schwarzes Gesicht starrt aus dem Dunkel zu ihr herein. Unter einem Wust filziger Haare glühen riesige Augen. Eine blutrote Narbe zieht sich vom Nasenflügel zur Stirn. Aug’ in Aug’ findet Alma sich mit einem Gnom! Der schartige Mund öffnet und schließt sich, stößt unverständliche Laute aus. Alma hört das Getrommel kleiner Fäuste auf dem Glas der Scheibe. Jetzt drängt sich eine schmutzverkrustete Kinderhand durch den Fensterschlitz, grapscht nach ihr und streift ihre Wange. Alma wirft sich entsetzt zur Seite und hält eine Hand schützend vor ihr Gesicht. In diesem Augenblick schaltet die Ampel auf Grün, und der Fahrer, der im Diskorausch nichts mitbekommen hat, haut den Gang rein, sodass der Wagen mit einem Satz nach vorne schießt. Das Kind, das buchstäblich am Auto klebt, wird roh zur Seite geschleudert. Schockiert fährt Alma herum und sieht durchs Rückfenster gerade noch ein kleines Wesen barfuß über die Straße taumeln, bevor es der Nebel verschluckt.

      Ihr drehen sich Herz und Magen um. Erschüttert schließt sie die Augen. Sie hat genug, sie will nichts mehr sehen! Auf welchem Planeten ist sie hier um Himmels willen gelandet?

       What’s the problem?

      Friedrich möchte Alma am liebsten in die Arme nehmen. »Ich verstehe deinen Schrecken, dein Zurückweichen«, will er sie trösten. »Ich habe das auch erlebt.«

      Das Elend am Straßenrand, von dem Alma sich abwendet, ist eine alltägliche indische Realität. Immer und überall wird Ihnen auf Ihrer Reise schreiendes Elend begegnen, denn in Indien ist Armut noch immer ein Problem der Massen. Bilder von verrottenden Slums, von Bettlern auf Straßen und Plätzen und von Elendsgestalten, die auf dem nackten Boden schlafen – diese Bilder sind real. Leben im Elend ist für Millionen Menschen in Indien Wirklichkeit. Um diese Art von Leben, das sich da vor unseren Augen entfaltet, zu verstehen, fehlen unserem Verstand meist alle Referenzpunkte.

      Wie schnell und weit das Wachstum in bestimmten Sektoren auch vorangeschritten sein mag, extreme Armut bleibt ein riesiges Problem für den Subkontinent. Auf der Weltbühne deutlich sichtbar strebt Indien politisch und wirtschaftlich nach globaler Macht, während im Land selbst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft als je zuvor.

       IM ARMENHAUS

      In nüchternen Zahlen: Mehr als 40 Jahre nachdem Indira Gandhi »Garibi hatao – Kampf der Armut« zu ihrem politischen Programm erklärt hat, leben noch immer 44 Prozent der Einwohner Indiens unter der Armutsgrenze, mit weniger als einem US-Dollar pro Tag.

      Wenn es auch gelungen ist, Hungersnöte zu bannen, so sind Unterund Fehlernährung besonders auf dem Land alarmierend. Vor allen Dingen Kinder sind in dramatischem Ausmaß vom Mangel betroffen. Nach einer Studie des Internationalen Ernährungsforschungsinstituts IFPRI sind 43 Prozent aller Kinder bis zum Alter von fünf Jahren unterernährt. Die Landbevölkerung – massenhaft durch staatliche Liberalisierungsmaßnahmen im Sinne des globalen Marktes (z. B. durch genmanipuliertes Saatgut oder Baumwollimporte) in den Ruin getrieben – drängt in die Städte, um zu überleben. In direkter Nachbarschaft der Prachtbauten von Reichen und Superreichen errichten sie ihre Hütten im Staub und Dreck. Ein Drittel der Einwohner der Millionenstädte lebt in Slums. Im größten Slum Asiens, Dharavi in Mumbai, ballen sich eine Million Menschen auf einer Fläche von einer Quadratmeile zusammen.

      Unterwegs in Indien – im Süden seltener als im Norden – werden Bilder größter Not auf Alma einstürmen. Es wird schwer für sie sein, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten. Vielleicht wird sie sich unter Druck setzen, etwas unternehmen zu müssen, um ein diffuses Schuldbewusstsein als überaus privilegierte Westlerin zu besänftigen. Oder aber sie wird sich abwenden, verschließen, vielleicht sogar wütend werden.

       No problem – relax!

      Ja, entspannen Sie sich, hier geht es tatsächlich nicht ums Richtigoder Bessermachen, sondern ums Bewusstmachen. Für Alma und uns alle ist es dabei wichtig, sich klar vor Augen zu halten, dass wir bloß Besucher in Indien sind – für sehr kurze Zeit. Es liegt nicht in unserer Macht und es ist nicht unsere Aufgabe, die vielschichtige indische Realität zu ändern. Eines aber können wir tun: Wir können genau hinschauen, diese bestürzende Realität ungefiltert aufnehmen und die Gefühle, die entstehen, zulassen. Mit unserem offenen Blick zollen wir dem Schicksal der Menschen Respekt, erkennen die Schwere ihrer Bürde an und verhindern so, dass diese Menschen im Elend von uns zu einem Nichts degradiert werden. (Mehr zum Umgang mit Bettlern in Episode 12)

      4

       TOILETTE? NO PROBLEM!

       SHIT HAPPENS

      Hinter Almas geschlossenen Augen wollen die Bilder des menschlichen Elends, das sie gerade so hautnah erlebt hat, nicht verschwinden. Als sie aufblickt, biegt der Wagen in einen schmalen, trübe beleuchteten Weg ein. Der Straßenbelag, aufgerissen, wie zerbombt, lässt den Ambassador holpern und schlingern, sodass Alma durchgeschüttelt wird wie ein Sack Erbsen. Links und rechts der Straße reihen sich niedrige Gebäude in unklarem Zustand – Abriss oder Aufbau? Ein dunkler zweistöckiger Betonkasten, dessen verwaschenes Schild »Hotel Kashmir Palace« verkündet, taucht vor ihren Augen auf. Schwungvoll hält der Ambassador vor den Eingangsstufen, scheucht eine Bande gelber Straßenköter aus den Papier- und Plastikfetzen im Straßenstaub auf, die kläffend auf das Auto zustürzt. Alma zieht scharf den Atem ein und reißt die schon halb geöffnete Autotür wieder zu sich heran. Der Fahrer droht der Meute mit der Faust und zischt einen harschen Befehl. Winselnd stieben die Hunde davon.

      »Palast! Na super«, seufzt Alma mit einem Blick auf die von Feuchtigkeit schwarzfleckigen Wände des Hotels. »Davon habe ich doch immer schon geträumt – just Bollywood!«

      Im funzeligen Licht des Vorraums schläft ein Mann auf einer Bastmatte. Als der Fahrer Almas Koffer neben ihn knallt, fährt er auf. Der heftige Wortwechsel zwischen den beiden klingt in Almas Ohren wie ein beginnender Streit. Mürrisch greift der Mann hinter den Tresen, holt eine Kladde hervor, deutet auf die Spalten »name«, »passport number« und hält ihr einen Stift hin. »800 Rupies – now«, verlangt er gähnend, und der Fahrer fällt hastig ein: »Madam, taxi is 1.200 Rupies only.«

      Alma zuckt zusammen. Viel Geld, oder? Sie kann es nicht festmachen,

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