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schulterlange Haar war mit einer Blütenkrone aus weißen Kamelien geschmückt. Die Lippen der Frau trugen die gleiche Farbe wie ihre Zehen- und Fingernägel.

      »Lieber Gott!«, presste Charlie zwischen bebenden Lippen hervor.

      »Ist sie tot?«, flüsterte Tina.

      Charlie legte den Rucksack ab, ging in die Hocke und führte die Spitzen von Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader. Die Haut fühlte sich trocken und kalt an. »Kein Puls mehr«, murmelte sie. An der Kragenspitze bemerkte sie leichte rötliche Verfärbungen. In Charlies Fingern juckte es, den Kragen nach unten zu schieben und nach der Ursache zu suchen. Doch sie wusste, dass sie auf diese Weise wertvolle Spuren zerstören würde. Langsam kam Charlie wieder auf die Beine. Dabei berührte ihr linker Fuß unabsichtlich den Kopf der Toten. Einer der beiden weißen, glatt polierten Kieselsteine, die auf den Augen der Toten lagen, rollte zur Seite und gab den Blick frei auf eine leere Augenhöhle, die sich anklagend zum Himmel richtete. Dort zogen erste Wolken von Westen auf.

      Charlie unterdrückte die aufsteigende Übelkeit, wandte sich von der Toten ab und griff nach dem Handy. Gunter Haase meldete sich beim dritten Klingelton.

      »Tina und ich, wir sind hier in Lichtenklingen gerade über eine weibliche Leiche gestolpert«, informierte Charlie den Hauptkommissar.

      »Das ist jetzt nicht wahr, Bobbelsche?« Gunter Haase wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. Vor Charlies Anruf hatte er den 27. Holzpflock in Folge in die steinharte Odenwälder Erde gerammt.

      »Ich befürchte doch«, sagte Charlie. »Am besten, du bringst gleich das ganz große Besteck mit.«

      5. Kapitel

      Mit einem triumphierenden Lächeln steckte Beate Holzapfel den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Sie war soeben über sich selbst hinausgewachsen. Für andere Sportler wären die 500 Meter, die ihre ebenerdige Wohnung vom Briefkasten entfernt lag, nicht mehr als ein Fliegenschiss. Beate hatte, für ihre Verhältnisse, soeben einen Halbmarathon hingelegt. Noch immer etwas außer Atem lehnte sie den Carbon-Gehstock gegen die Flurwand und streifte die Jacke ab. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel, der neben der weißen Garderobe hing. Beate verzog den Mund automatisch zu einer Grimasse. Dann atmete sie einmal tief durch und konfrontierte sich nochmals mit ihrem Spiegelbild. Ihre Psychotherapeutin und sie arbeiteten seit mehr als fünf Jahren daran, dass sie ihr neues Ich endlich akzeptierte. Mit ihrem jetzigen Aussehen zurechtkam. Ob es ihr gefiel, spielte dabei keine Rolle. Sie musste lernen, mit dem, was geschehen war, zu leben.

      Beate zog den langen, schräg geschnittenen Pony über die Narbe auf der Stirn. Der dicke Wulst an rotem, wucherndem Fleisch war dank mehrerer Operationen zu einem drei Millimeter breiten weißen Strich geschrumpft. Mit geschickt aufgetragenem Make-up bemerkten Leute, die nichts von ihrem Unfall wussten, den Makel meist überhaupt nicht. Der Rest von ihrem Gesicht – nun, das war eine andere Sache.

      Vor dem Tag, an dem sich ihr ganzes Leben geändert hatte, war Beate nicht nur eine begnadete Turnerin, sondern auch eine richtige Schönheit gewesen. Mit ihrem herzförmigen Gesicht, den hoch liegenden Wangenknochen, der geraden Nase, dem sinnlichen Mund und den strahlend blauen Augen hatte sie allen Jungen im Landeskader sowie ihren Trainern den Kopf verdreht. Obwohl sie das gar nicht nötig hatte. Beate Holzapfel war die geborene Turnerin: Auf dem Schwebebalken tänzelte sie wie eine Ballerina, den Stufenbarren beherrschte sie wie keine andere, beim Sprung flog sie einer Feder gleich durch die Lüfte und auf der Bodenmatte zeigte sie sich als wahre Akrobatin. Beate war auf dem besten Weg, in den Olympiakader aufgenommen zu werden. Bis, ja, bis zu jener Nacht kurz vor ihrem 17. Geburtstag. Als sie plötzlich im Straßengraben lag, aus einer klaffenden Wunde auf der Stirn blutete, halbseitig gelähmt war und es nicht einmal merkte. Beate hatte, bedingt durch die schwere Schädel-Hirn-Verletzung, vier Jahre im Wachkoma gelegen. Dass sie es überhaupt zurück ins Leben geschafft hatte, grenzte an ein Wunder.

      Beate atmete tief durch und streckte die Zunge heraus. »Hallo, funny face!«

      Die Medikamente und die vielen Jahre, in denen sie zum körperlichen Nichtstun verdammt gewesen war, hatten ihre Spuren hinterlassen. Wenn Beate sich auf Fotos von früher sah, erkannte sie sich selbst fast nicht wieder. Nur ihre blauen Augen, die hatten nichts an Strahlkraft eingebüßt. Sie zeugten von Optimismus. Trotz allem. Alle Rückschläge, alle Niederlagen hatten ihren starken Willen nicht brechen können. In Beates Brust steckte das Herz einer Kämpferin. Mit eiserner Disziplin hatte sie sich aus dem Rollstuhl einen Weg in die Freiheit gebahnt. Denn Beate hatte ein Ziel: Sie wollte Rache. Endlich Genugtuung. Um jeden Preis.

      »Beeil dich! Das Essen ist gleich fertig!«, rief Jörg aus der Küche. Er stand am Herd und rührte in einem Topf mit Tomatensoße. Die abgegossenen Spaghetti standen bereits in einer abgedeckten Schüssel auf dem Esszimmertisch.

      Beate hauchte Jörg einen Kuss auf den Haaransatz im Nacken. Er hatte das Gewicht auf sein gesundes Bein verlagert, weil die neue Unterschenkelprothese drückte. Bis die Prothese richtig saß, war eine Menge Anpassungsarbeit notwendig.

      »Es duftet himmlisch«, sagte Beate.

      »Setz dich schon mal hin! Ich komme gleich mit der Soße«, erwiderte Jörg und lächelte.

      Er besaß die beneidenswerte Gabe, das, was vorher war, nicht mit dem, was nachher kam, zu vergleichen. Er schaute nicht zurück. Jörg hatte sich während ihres gemeinsamen Aufenthaltes in der Rehaklinik in Beate verliebt. Wie sie vor ihrem Unfall, vor den vielen chirurgischen Eingriffen ausgesehen hatte, interessierte ihn nicht. Für ihn zählte nur das Hier und Jetzt. Eine winzige Unachtsamkeit auf dem Weg ins freie Wochenende hatte Jörg gezeigt, wie schnell das Leben vorbei sein konnte. Sein bester Freund Max, der hinter ihm auf der Moto Guzzi saß, hatte den Motorradunfall nicht überlebt. Jörg dagegen hatte »nur« den rechten Unterschenkel samt Fuß eingebüßt. Im Vergleich zu Max’ Schicksal ein, wie Jörg fand, geringer Preis.

      Jörg zog den Topf vom Herd und humpelte zum Esstisch.

      »Wollen wir morgen eine kleine Wanderung machen?«, schlug Beate vor, während sie ein paar Spaghetti um ihre Gabel wickelte.

      Jörg warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Du willst wandern? Ist das nicht ein bisschen früh?«

      »Nun ja«, erwiderte Beate, nachdem sie die Spaghetti hinuntergeschluckt hatte. »Wandern ist vielleicht zu viel gesagt. Aber ich muss lernen, mit dem Stock auch in unebenem Gelände klarzukommen.«

      »Eins nach dem anderen«, bremste Jörg ihren Übereifer. »Lass uns morgen eine Runde um den Teich im Hermannshof-Garten drehen! Die Ärzte haben dich davor gewarnt, dich zu schnell zu überanstrengen. Oder willst du zurück in den Rollstuhl?«

      »Niemals!«, brachte Beate keuchend hervor.

      »Siehst du.« Jörg gab etwas geriebenen Parmesan über seine Spaghetti. »Wir gehen morgen in den Park und bewundern die Frühlingsblüher. Der Rest wird sich finden.« Er gab Beate einen liebevollen Nasenstüber. »Und jetzt iss weiter, bevor alles kalt wird!«

      Beate tat, als ob sie sich mit Jörgs Vorschlag einverstanden zeigte. Insgeheim überlegte sie jedoch, wie sie so schnell wie möglich in den Odenwald gelangen könnte. Sie musste das Gelände auskundschaften. Und ihre wackligen Beine an das Gehen über Stock und Stein trainieren. Denn Beate wusste: Ohne ihr entschlossenes Handeln würde sich nichts finden oder lösen. Sie musste aktiv werden. Und bleiben.

      »Kann mir vielleicht jemand verraten, was das soll?« Kriminalrat Doktor Kuno Wölfelschneider blickte anklagend in die im Besprechungszimmer der Regionalen Kriminalinspektion Heppenheim versammelte Runde.

      Kriminalhauptkommissar Gunter Haase unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. »Es tut mir aufrichtig leid, aber ich habe mir den Samstagnachmittag auch anders vorgestellt«, wagte er einzuwenden. Seine langen Beine steckten noch immer in der mit Erde verschmierten Jeans, die er bei der Holzpflockaktion auf dem Atzeldoalhof getragen hatte. Sein hellgraues T-Shirt war verschwitzt. Aber was hätte er tun sollen? Nach Charlies Anruf blieb keine Zeit, die Klamotten zu wechseln. Da hatten andere Aufgaben Priorität.

      Doktor Kuno Wölfelschneider sah

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