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besser, als Wohnzimmer und Küche zu streichen«, erwiderte die Kommissarin grinsend und schnappte sich ihre dunkle, mit Nieten besetzte Lederjacke.

      6. Kapitel

      Charlie betrat das kleine Büro auf dem der Straße abgewandten Teil des Atzeldoalhofes, das sie sich mit Reiner und in den letzten Wochen vermehrt mit Emelie teilte. Weshalb die alten Plakate mit Abbildungen von Schleppern und Vollerntern Postern der Tierrechtsorganisation PETA hatten weichen müssen. Eins der Poster zeigte den Kopf einer schwarz-weiß gefleckten Holstein-Kuh, von denen es eine 200-köpfige Herde auf dem Atzeldoalhof gab. »Lass mir meine Milch! Trink Pflanzenmilch!«, bat die Kuh mit traurigen Augen. Auf einem zweiten Poster lag ein toter Rehbock ausgestreckt im Gras, was mit der Überschrift »Jagd ist Mord!« kommentiert wurde. Über der Lehne des Schreibtischstuhls hing ein grünes T-Shirt mit dem weißen Aufdruck »Go vegan, safe the world!«. Im Raum roch es nach Schokoladenkeksen, Klebestiften und Pubertätshormonen. Charlie reichte Reiner, der am Computer saß, eine Tasse Kräutertee, stellte ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab und öffnete das Fenster.

      »Hatte Emelie heute wieder ein Gruppentreffen?«

      Reiner verzog den Mund zu einem Grinsen. »Die Mädels sind gerade abgezogen, um beim Italiener in Aschbach vegane Pizza zu mampfen.«

      Charlies Magen reagierte augenblicklich mit Grummeln auf das magische Wort Pizza. Sie biss in den Apfel, den sie aus der Küche mitgenommen hatte. »Mist!«, fluchte sie, als der Saft ihr das Kinn heruntertropfte.

      Reiner zog ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und reichte es ihr.

      »Danke!« Charlie säuberte damit ihr Kinn und die klebrigen Hände. »Du siehst müde aus«, bemerkte sie, als sie das Taschentuch in den Papierkorb beförderte.

      »Dieser Verwaltungskram bringt mich noch um!«, stöhnte Reiner und warf den Tabellen auf dem Computerbildschirm einen erbosten Blick zu.

      »Von der Wiege bis zur Bahre – Papiere und Formulare«, witzelte Charlie, wurde aber schnell wieder ernst. »Du musst dir endlich Hilfe holen!«

      Reiner seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. »Will ich ja! Vor allem für die Jobs auf dem Hof! Seitdem die Modder sich im September den Arm gebrochen hat und nicht mehr so kann wie früher, ertrinke ich schier in Arbeit.«

      »Wenn du so weitermachst, hast du bald einen Herzinfarkt«, warnte ihn Charlie.

      »Theo meint es ja gut«, jammerte Reiner weiter, »aber er steht mir mehr im Weg, als dass er eine wirkliche Hilfe ist. Außerdem kann er wegen seiner Hüften kaum krauchen.«

      »Hast du mal beim Arbeitsamt in Mörlenbach nachgefragt?«

      »Die haben nix. Wer will schon auf einem Bauernhof schuften? Höchstens Saisonarbeiter. Ich brauch jemanden für alle Tage im Jahr.«

      Charlie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Du könntest eine Annonce in den Kleinanzeigen aufgeben. Vielleicht fühlt sich jemand angesprochen.«

      »Ich rechne mir da keine großen Chancen aus.« Reiner war sichtlich bedrückt. »Die einzige Möglichkeit wäre …«

      »Ja?« Charlie schaute ihn erwartungsvoll an.

      »Ich habe bei der Sparkasse den Jürgen vom Hilbig-Hof getroffen. Bei ihm ist vor Kurzem Dirk Schmitt aufgetaucht und hat nach Arbeit gefragt.«

      »Wer ist dieser Schmitt?«

      »Eine verkrachte Existenz«, erwiderte Reiner Haase. »Der Dirk war mit dem Gunter in einer Klasse, hat aber kurz vor der mittleren Reife die Schule abgebrochen. Er wollte eine Lehre als Automechaniker machen, ist jedoch schon bei der ersten Lehrstelle rausgeflogen. Um an Geld zu kommen, hat er angefangen zu dealen. Nicht die ganz harten Drogen, aber ein bisschen Hasch und stimmungsaufhellende Medikamente. Er hatte sogar die Dreistigkeit, das Zeug auf dem Schulhof zu verkaufen. Irgendwann ist er damit aufgeflogen. Weil er sich bei der Festnahme mit einem Messer gewehrt und einen Polizeibeamten verletzt hat, ist er für drei Jahre in den Knast gegangen.«

      »Uh, eindrucksvolle Vita!« Charlie verzog den Mund zu einer Grimasse.

      »In den letzten Jahren hat sich Dirk wohl nichts mehr zuschulden kommen lassen. Hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Eine ganze Weile hat er sich um eine unserer ehemaligen Lehrerinnen gekümmert, die nach einem Unfall nicht mehr allein klarkam. Die hat in den höchsten Tönen von ›ihrem‹ Dirk geschwärmt. Inzwischen ist sie leider in einem Pflegeheim untergebracht.«

      Charlie runzelte die Stirn. »Wenn ich das, was du eben gesagt hast, richtig deute, willst du diesem Dirk eine Chance geben?«

      Reiner gähnte herzhaft. »Ich fürchte, dass ich keine andere Wahl habe. Außerdem hat er seine Strafe bekommen und abgesessen. Man kann ihn doch nicht ewig für eine Jugendsünde verdammen.«

      »Nein, das sollte man nicht«, gab Charlie dem Freund recht. Als Juristin hatte sie oft genug miterlebt, wie schnell eine falsche Entscheidung, eine unbedachte Handlung lebenslange Folgen nach sich ziehen konnten.

      »Ich werde mit Dirk sprechen, und dann sehen wir weiter.« Reiner stand vom Schreibtischstuhl auf und reckte sich. »Jetzt brauch ich ein schönes kaltes Bier. Nach dem ganzen Papierkram habe ich mir das verdient.«

      »Ich hätte auch Lust auf eins«, seufzte Charlie und zog unwillkürlich den Bauch ein.

      Reiner schaute sie verwundert an. »Wer oder was hindert dich daran?«

      »Ich wollte mal ein bisschen kürzertreten.«

      »Ach komm!« Reiner fasste sie sanft am Arm. »Du hattest heute einen verdammt harten Tag. Über ein Mordopfer zu stolpern, ist alles andere als angenehm. Wahrscheinlich stehst du noch immer unter Schock.«

      »Nee, nicht wirklich«, widersprach ihm Charlie.

      »Ein Bier und ein paar von Modders selbst gebackenen Käsehäppchen werden dir guttun.«

      »Ich hab’s gewusst!«, seufzte Charlie. Gute Vorsätze auf dem Atzeldoalhof einzuhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit.

      Reiner blieb mitten im Flur stehen. »Wie hat mein Bruder eigentlich darauf reagiert, dass ausgerechnet du ihn wieder mit einer Leiche konfrontiert hast?«

      Charlie dachte an Gunters gequälten Gesichtsausdruck, als er die Treppen zur Kapellenruine hochgestapft war. »Er hat sich alle Mühe gegeben, meine Anwesenheit mit Fassung zu tragen.«

      Reiner grinste. »Kann ich mir lebhaft vorstellen.«

      »Aber ich musste ihm in die Hand versprechen, dass ich mich diesmal nicht in die Ermittlungen einmischen werde«, sagte Charlie. Ihre Mundwinkel bebten leicht.

      Reiner lachte laut auf. »Und? Wirst du dich an dein Versprechen halten?«

      Charlie zuckte nonchalant mit den Schultern. »Mal sehen. Jetzt lass uns endlich ein Bier trinken!«

      Am Dienstagmorgen brach Martina Lohse bereits um kurz nach sieben auf. Sie hatte sich, was die Fahrtzeit von ihrer Wohnung nördlich von Bensheim bis nach Erbach betraf, gründlich verschätzt. Mit der Folge, dass sie viel zu früh in Erbach, der Kreisstadt des südhessischen Odenwaldkreises, ankam. Der kleine Laden von Selena Sinten, mit der sie sich am Telefon verabredet hatte, öffnete erst um halb zehn.

      Martina Lohse parkte den Dienstwagen im Untergeschoss des Parkdecks an der Neuen Lustgartenstraße. Sie kannte das beschauliche Odenwälder Städtchen mit den schmucken Fachwerkhäusern von der Erbacher Schlossweihnacht, die alle Jahre wieder Tausende Touristen aus nah und fern anzieht. Jetzt, Ende März, waren die große, mit Lichtern geschmückte Tanne vor dem Barockschloss auf dem Marktplatz, die Stände mit weihnachtlichen Spezialitäten und die Musikanten natürlich verschwunden. Die Büsche und Sträucher entlang der Mümling trugen das erste Grün. Im Lustgarten mit der angeschlossenen spätbarocken Orangerie reckten Primeln und Narzissen die gelben Köpfe in die Frühlingsluft. Vor der Orangerie waren weiße Sonnenschirme aufgestellt. Doch um den ersten Morgenkaffee draußen zu genießen, war es einen Tick zu kalt. Martina Lohse öffnete die Tür zum

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