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die sich in diesen Modellen bewegen, sind leblos und ohne irgendeinen Verstand, sie unterliegen nur einigen wenigen und sehr einfachen Befehlen, und schon entsteht das „unerwartete“ kollektive Verhalten. Mit Selbstorganisation haben wir eben noch nicht so viel Erfahrung.

      In der Physik und der Chemie kann man die für die verschiedenen Elemente zuständigen Atome hervorragend beschreiben, als Bindungszustände von positiv geladenen Kernen und negativ geladenen Elektronen. Man kann die Bahnen der Elektronen um den Kern berechnen, die Größe der Atome beschreiben und die Struktur der Kerne spezifizieren. Das alles hilft aber wenig, wenn es um das Verhalten einer Gesamtheit vieler Atome geht. Ein Eisenatom ist ein Eisenatom; eine Ansammlung solcher Atome aber bildet einen Magneten (bei niedrigen Temperaturen) oder auch nicht (bei hohen Temperaturen). Helium ist das einzige Element, das zuerst auf der Sonne und erst dann auf der Erde entdeckt wurde, daher auch der Name. Helium wird nie zu einem Festkörper, es friert nie; bei sehr niedrigen Temperaturen bildet es eine fast perfekte Flüssigkeit, die ungehindert fließen kann. Weder bei Eisen noch bei Helium hat die Atomstruktur zur Erkenntnis dieser Eigenschaften beigetragen: Sie betreffen kollektives Verhalten, das als solches unabhängig entdeckt wurde. Kollektive Eigenschaften lassen sich selbst in der unbelebten Natur eben nicht aus der auch noch so perfekten Kenntnis der Einzelteile ableiten. Nicht nur ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile – die Teile können sich ihrerseits entschließen, zusammen ein völlig neues Gebilde zu erschaffen, mit völlig unvorhergesehenen Eigenschaften.

      Ein solches unerwartete Verhalten lässt uns in der Tierwelt oft ungläubig staunen. Wie können tausende von Vögeln ihren Tanz am Himmel koordinieren? Wie erwähnt, haben selbst ernsthafte Biologen Telepathie vermutet. Und wie können tausende von Leuchtkäfern im asiatischen Urwald ihre Lichtstrahlung bis auf ein tausendstel Sekunde synchronisieren? Schwärme müssen irgendwelche geheimen Methoden haben, um diese Leistungen vollbringen zu können. Die Herausforderung an uns ist es, diese Methoden zu entziffern, festzustellen, wie sie die beobachtete Ordnung erzielen können.

      In diesem Zusammenhang taucht noch ein weiteres, wenn auch nicht a priori kollektives Problem auf. In jedem Herbst ziehen riesige Vogelschwärme in weit entfernte wärmere südliche Gefilde und im folgenden Frühjahr zurück nach Norden. Die Tiere ziehen aber nicht einfach in eine Himmelsrichtung, sondern von einem präzisen geografischen Punkt, dem Nest auf dem Baum im Ort x, zu einem anderen, den Sumpf am Fluss y, und auch die Flugroute ist Jahr um Jahr die gleiche. Und unter Wasser ziehen Lachse und Aale Tausende von Kilometern zwischen ihren Laichgebieten und Lebensbereichen – sie haben nicht einmal die Sonne zur Orientierung. Wie also können solche Tiere derartige Navigationsleistungen vollbringen? Die Erforschung dieser Problematik hat durchaus Fortschritte gebracht, aber vieles bleibt nach wie vor rätselhaft.

      Neben solchen Formen von tierischer Organisation gibt es aber noch weitere. In Insektenstaaten leben Tausende, mitunter Millionen von Tieren in einer Gesellschaft, in der die verschiedensten Aufgaben ohne jede Leitung, kastenmäßig erledigt werden: Futtersucher, Nestbauer, Brutpfleger, Soldaten – alle gehen „von sich aus“ ihrer Tätigkeit nach, und selbst die „Königin“ herrscht nicht etwa, sondern legt nur Eier. Solche Strukturen müssen sich wohl im Laufe der Zeit genetisch entwickelt haben, durch Vorteile in der Evolution. Bereits Darwin hatte festgestellt, dass so etwas nicht leicht in Einklang zu bringen ist mit der üblichen Vorstellung von survival of the fittest. Es wird also eine Erweiterung des Evolutionsbegriffs notwendig.

      Die letzten drei Jahrzehnte haben in der theoretischen Untersuchung von Selbstorganisation und Schwarmverhalten auf einen rasanten Anstieg geführt, durch die Einführung von Computersimulation wie auch ganz allgemein durch die Untersuchung mathematischer Schwarmmodelle. Jedes Jahr erscheinen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, in denen anhand mathematischer Modelle das kollektive Verhalten vieler Einzelwesen erklärt werden soll, von Mikroorganismen bis zu Antilopenherden. Gleichzeitig haben Biologen detaillierte, quantitative Studien von verschiedenen Tiergemeinschaften durchgeführt, von Vögeln, Ameisen, Heuschrecken und vielen anderen. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Zugangsrichtungen ist ein neues Forschungsgebiet entstanden, die Erforschung von Schwarmverhalten. Es ist von Haus aus ein interdisziplinäres Gebiet, zu dem Biologie, Physik und Mathematik wesentlich beitragen.

       Schwarmbildung: Wie entsteht ein Schwarm?

       Schwarmstruktur: Wie sind die einzelnen Teilnehmer verbunden?

       Schwarmkommunikation: Wie verständigen sich die einzelnen Teilnehmer?

       Schwarmkoordination: Wie können sich die einzelnen Teilnehmer synchronisieren?

       Schwarmorientierung: Wie legen Kollektive ihre Verbindungswege fest?

       Schwarmwege: Welchen Routen folgen Schwärme auf ihren Wanderungen?

       Schwarmstaaten: Wie entstehen Schwarmkasten?

      Wir werden es bewusst offen lassen, inwieweit auch menschliche Gesellschaften entsprechenden Regeln unterliegen. Wir müssen allerdings mit Staunen feststellen, dass es zum Beispiel in Ameisenstaaten Viehzucht und Landwirtschaft gibt, Unterwerfung anderer Völker und Sklavenhaltung, Berufssoldaten und vieles mehr – alles ohne irgendeine Form von Führung.

      Eine Grundfrage für das Entstehen von Schwärmen ist, wie man viele identische Komponenten zu einem zusammenhängenden Ganzen kombinieren kann. Die übliche Methode in unserer Welt geht aus von einem Konstruktionsplan, der angibt, wie man aus vielen Steinen ein Haus baut. In Lebewesen ist ein solcher Plan genetisch eingebaut: Er legt fest, wie eine Pflanze oder ein Tier aus einigen Anfangszellen entsteht. Eine ganz andere und in gewisser Weise komplementäre Methode erhält man, wenn man die Komponenten willkürlich zusammenlegt – indem man etwa ohne jeden Plan, per Zufall, Steine auf die Felder eines Schachbretts legt oder indem man beobachtet, wie aus fallenden Regentropfen eine Pfütze entsteht. Die Untersuchung des Einsetzens eines derart zufällig erzeugten Zusammenhangs, Perkolation ist wiederum ein Gebiet, das erst in den letzten 50 Jahren aufgeblüht ist. Für unsere Fragen ist es offensichtlich von großem Interesse: Die Heuschrecken oder die Vögel in einem Schwarm sind dort nicht nach irgendeinem Plan platziert – sie sind einfach irgendwie dorthin geraten.

      Die nächste Frage ist, wie die Komponenten des Schwarms ihre Bewegung koordinieren. Wenn sich Vögel in einem Feld zur Nahrungssuche niederlassen, bewegen sie sich willkürlich umher; einige hierhin, andere dorthin. Werden sie aber erschreckt, dann fliegen sie alle auf und davon in einer gemeinsamen Richtung. Wie bestimmen sie diese Richtung? Zur Lösung dieses Rätsels haben zwei Forschergruppen wesentlich beigetragen, eine theoretisch, die andere experimentell. Im Jahre 1995 haben Tamás Vicsek (Budapest) und Mitarbeiter gezeigt, dass Vogelschwärme im Wesentlichen den gleichen Regeln folgen, wie sie bei der Magnetisierung von Eisen gefunden worden waren. Seitdem haben viele Biologen, Physiker und Mathematiker in fruchtbarer Zusammenarbeit diese Überlegungen bestätigt und erweitert. Insbesondere auf der experimentellen Seite hat eine Gruppe von Physikern und Biologen der Universität Rom durch intensive Untersuchungen von großen Schwärmen von Staren eine sichere empirische Basis für die Strukturerforschung von Vogelschwärmen geschaffen.

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