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ein Glied des Adels den jeweiligen Zaren bis aufs Blut hassen, ja morden konnte, wurde das autokratische System nicht angetastet, da ja der Reichtum des Adels auf der rechtlosen Abhängigkeit der Bauern beruhte, die der Zar ihm verbürgte; so seltsam waren Herrschaft und Knechtschaft von Zar und Adel verflochten.

      Man sollte meinen, die Befreiung der Bauern hätte im Interesse der Zaren gelegen; indessen unmittelbare Gefahr und Mühe wirkt stärker als in der Ferne winkender Vorteil. Katharina hatte mit dem Gedanken der Bauernbefreiung gespielt; von Alexander I. heißt es, er habe ihn aufgegeben, als man ihn vor dem Gifte des Adels gewarnt hatte, der durch eine solche Umwälzung in seinem Besitz und Wohlsein bedroht gewesen wäre. Je länger der Stein dalag, desto mehr Furcht verbreitete sich vor dem Augenblick, wo man ihn aufhöbe und grauenhaftes Gewürm frei hervorkröche. So wenig aber Alexander tat, um den inneren Zustand Rußlands zu heben, beförderte er doch die Kritik und die Sehnsucht nach Besserung, indem er selbst, alles Russische verachtend, auf westeuropäische Bildung stolz war. Auch Katharina hatte junge Leute auf deutschen Universitäten studieren lassen; unter Alexander aber führte der Krieg unzählige junge Offiziere ins Ausland, welche, heimgekehrt, das freiere und edlere Leben, an das sie sich gewöhnt hatten, schmerzlich vermißten. Überhaupt war seit langer Zeit das Französische die Umgangssprache der guten Gesellschaft und französische Sitte und französische Anschauungsweise verbreitet; dem Adel waren die freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution vielfach geläufig, während er tatsächlich von der Sklaverei des Volkes lebte.

      Die jungen Revolutionäre, welche zur Zeit Alexanders zum ersten Male den Plan einer systematischen Umwälzung in Rußland faßten, gingen alle aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft hervor; man nannte diese Erscheinung später den bereuenden Adel. Die Gesellschaft war auf einer Spitze angelangt, wo sie sich selbst beurteilte, sich selbst verdammte und auflöste; sie begriff, wie weit sie sich von der Natur und den in ihr wirksamen sittlichen Gesetzen entfernt hatte und daß sie so nicht weiter fortbestehen konnte, weil sie es nicht durfte. In der Mehrheit war natürlich eine solche selbstvernichtende Erkenntnis nicht lebendig, und viele gab es, die sie wohl hatten, aber keine Schlüsse daraus zogen. Daß die Revolutionäre die herrschende Schicht gegen sich hatten, war selbstverständlich; zu ihrem Unheil konnten sie sich aber auch nicht auf das Volk stützen, das sie nicht verstand.

      Überall erhält sich ein mehr oder weniger dunkles Bewußtsein von naturgemäßen Zuständen, wie sie sein sollten, die die Gebildeten, je mehr die Entwicklung sie davon entfernt hat, geringschätzig als phantastisch abzutun pflegen; in Rußland war dies besonders der Fall, da sich einerseits die primitive Freiheit der Dorfgemeinde inmitten der Leibeigenschaft unverändert erhalten hatte, anderseits die Zivilisation gewalttätig eingeführt war und in das Volk nie hatte eindringen können. Um die Ereignisse richtig zu beurteilen, muß man einsehen, daß seit Peter dem Großen ein dauernder Kriegszustand in Rußland herrschte, meist im verborgenen glimmend, zuweilen in hellen Flammen auflodernd. Das Eigentümliche des Dekabristenaufstandes war, daß er aus dem Schoße der westlichen Zivilisation selbst erwuchs und ohne jede Anknüpfung an das leidende Volk war, dem er Erlösung bringen sollte. Die Bauern haßten den Adel und die Bürokratie, aber sie trennten davon den Zaren, der in ihrer Einbildung ein Volkszar war, und was sie anstrebten, Land und Freiheit, hatte nichts zu schaffen mit den Verfassungsplänen der Dekabristen; das Rüstzeug, dessen diese sich bedienten, bestand in westlichen Ideen, die sich allmählich gegen die Schäden der Zivilisation auf dem Boden derselben entwickelt hatten.

      Man kann von einem romanischen und einem germanischen Protest gegen die herrschenden Zustände sprechen. Beide gründen sich auf die Idee der Volksherrschaft, die aber auf verschiedene Art von beiden aufgefaßt wird. Die germanische Volksherrschaft beruht auf der Gesamtheit der wehrkräftigen Freien und wird von Männern ausgeübt, die aus ihrer Mitte hervorgegangen und von ihnen gewählt sind; nach der romanischen Idee wird die Herrschaft von der Gesamtheit des Volkes abgelöst, wodurch aus dieser Regierte oder Staatsbürger werden, die mit den öffentlichen Angelegenheiten nichts zu tun haben. Es mag sein, daß es richtiger wäre, die Lebensformen junger und alternder Völker zu unterscheiden; jedenfalls übernahmen die romanischen Völker die Neigung zu den römischen Gesetzen und Regierungen, kurz, die Zentralisation, während die germanischen Barbaren auflösend auf jene Welt wirkten. Die romanische Revolution und Demokratie bedeutet die Teilnahme einer neuen, bisher ausgeschlossenen Schicht an der Regierung und Vertretung im Parlament, die germanische verlangt, daß das, was alle angeht, auch von allen beschlossen und ausgeübt werde, Selbstverwaltung im weitesten Sinne. Im wesentlichen stehen sich Zentralisation und Föderation oder Vergesellschaftung, Gemeindebildung, gegenüber; denn es leuchtet von selbst ein, daß das Besorgen der öffentlichen Geschäfte durch alle die Bildung von Gruppen erfordert, die sich, von unten nach oben zusammenwachsend, untereinander verständigen müssen. Ebensowohl kann man fließendes und erstarrendes Leben unterscheiden: Mit der Zentralisation beginnt das, was man Staat zu nennen pflegt, dessen Wesen Stabilität ist, wohingegen man den fließenden Zustand das Reich der privaten Beziehungen nennen könnte. Denn im Grunde ist es doch so: Das Leben bleibt im Flusse, solange es auf Personen und Gewohnheiten abgestellt ist, es erstarrt, wenn es auf Erblichkeit, auf Gesetzen, Verträgen und Verfassungen beruht.

      Der hervorragendste unter den russischen Revolutionären, Pestel, Sohn einer deutschen Mutter und Adjutant des Fürsten Wittgenstein, hatte föderalistische und sozialistische Ideen zu einer Zeit, wo das Wort und der Begriff Sozialismus noch unbekannt waren. Er übte auf seine Genossen einen fast unwiderstehlichen Einfluß aus; doch wichen viele in verschiedener Hinsicht von ihm ab. Er wollte die Republik, andere wollten eine konstitutionelle Monarchie. Die Befreiung der Bauern wollten alle, über die Art ihrer Ausstattung mit Land war man nicht einig. Pestel hielt die Umwandlung des Adelszaren, Vertreters einer Klasse, in einen Volkszaren, Vertreter des Ganzen, für unmöglich und deshalb die Ermordung des Zaren und seiner ganzen Familie für notwendig. Dazu wollten sich verschiedene andere nicht verstehen, doch gaben sie endlich, von Pestel überzeugt, wenigstens in bezug auf die Person des Zaren nach. Einer, ein entschlossener, erbitterter Mann, wollte gelegentlich die Tat ausführen; indessen, die anderen schraken davor zurück, und es gelang ihnen, ihn zurückzuhalten. Alle waren von hoher Uneigennützigkeit und begeistert im Reden; aber die rücksichtslose Kraft des Handelns besaßen sie nicht, wie sie denen eigen ist, die am eigenen Leibe unter Despotismus und Ungerechtigkeit leiden. Pestel hatte Augenblicke tiefer Niedergeschlagenheit, wo er daran dachte, mit Gefahr seines Lebens dem Zaren alles zu gestehen und ihn anzuflehen, die Geheimbünde aufzulösen und die Reformen, die sie anstrebten, selbst durchzuführen.

      Der plötzliche Tod Alexanders veränderte die Lage und drängte zum Handeln; namentlich wegen eines besonderen Umstandes, der mit dem Thronwechsel verbunden war. Schon Jahre zuvor hatte der Thronfolger, Alexanders Bruder Konstantin, abgedankt, was aber im allgemeinen unbekannt war, so daß ihm der Treueid geleistet wurde. Wenn nun Nikolaus, der jüngere Bruder, auf die Nachfolge Anspruch erhob, so konnte man die Soldaten glauben machen, es handle sich nicht um Rebellion, sondern um pflichtmäßiges Eintreten für den verdrängten Erben. Die Dekabristen, wie man diese Verschwörer später nannte nach dem Monat Dezember, in welchen der Tod Alexanders und die Revolution fielen, entschlossen sich zu diesem Wege eigentlich, weil sie sich bewußt waren, es widerstrebend zu tun; nachdem sie so lange geredet hatten, hielten sie es für ein Erfordernis der Ehre, zu handeln. Einige fielen ab; andere stürzten sich mit zusammengebissenen Zähnen, hoffnungslos, in den Kampf. Diejenigen, die mit unerschütterlichem Heroismus vom Anfang bis zum Ende standhielten, starben am Galgen oder in Sibirien; nur wenige erlebten die Begnadigung nach dem Tode des Kaisers Nikolaus.

      Die seltsame Erscheinung Nikolaus' des Ersten kann man nur begreifen, wenn man ihn als krankhaft ansieht, und das taten auch manche, die ihm nähertraten, besonders gegen das Ende seines Lebens. Man konnte das Urteil hören, die ganze Familie Romanow leide an erblicher Geisteskrankheit; ist sie aber nicht der Fluch, der alle trifft, die keinen Widerstand dulden und keinen finden? Die Eigenart Nikolaus', der charaktervoller, aber beschränkter war als sein Bruder Alexander, kam der Ausbreitung des Giftes besonders entgegen. Seine oft beleidigende Gefühlsroheit, die Leere, die er durch hochtrabende Gesten und Worte zu verdecken suchte, der Stolz, der Eigensinn, das Aufblitzen von Größe, die aber immer im Herrischen, nicht in Großmut lag, alles das deutet auf einen Menschen, der den Zusammenhang mit dem Ganzen verloren hat und, von Königsbewußtsein verblendet, dem Abgrund des

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