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auf unseren Wegen!“, steht da. Darunter das Bild eines Fahrrads, stilisiert zu einem zornigen Augenpaar.

      Mein Puls geht schneller, ich werde rot. Mit dem Daumennagel kratze ich hektisch an jedem Sticker herum – vergeblich. Die Dinger kleben bombensicher.

      Ich schaue verstohlen umher, ob mich jemand sieht. In meine Wut mischt sich jetzt eine satte Portion Scham und verdichtet sich zu einem brodelnden Gebräu in mir. „Moment“, mahnt mein Verstand, „ganz ruhig. Erst die Fakten.“

      Na ja, ein diagonal eingeparkter Wagen von knapp fünf Metern Länge ist in der Tat etwas länger, als dieser Sandstreifen breit ist. Das nach rechts eingeschlagene Vorderrad meines Autos berührt die verwitterten Pflastersteine entlang der Mauer. Aber – nützt es jetzt noch was, dies einzugestehen? Das ändert nichts an der Sachlage. Außerdem: Soll dieser holprige, grasdurchwachsene Plattenpfad ein Fahrradweg sein? Wo steht das? Auf diesem Gehsteig ärgern die Radfahrer die Fußgänger wahrscheinlich genauso, wie ich die Radfahrer – bzw. den Radfahrer – geärgert habe!

      „Euch kenn ich, ihr Brüder“, schießt es mir durch den Kopf. „In knallengen Hirschlederhosen mit spiegelverglasten blauen Sportbrillen rast ihr in geduckter Haltung auf sündhaft teuren Rennrädern angeberisch durch die Stadt. Fünfzig oder sechzig Stundenkilometer schnell. Ihr seid lebensgefährlich für spazierende Rentner oder Mütter mit Kinderwagen! Aber mir gegenüber, dem parknotgebeutelten Autofahrer, wollt ihr das arme Opfer spielen! Und beansprucht eure vermeintlichen Rechte, indem ihr Windschutzscheiben verschandelt: Parke nicht auf unseren Wegen. Pah!“

      Ich steige ein, will losfahren. Die Aufkleber sind aber so exakt in Augenhöhe platziert, dass ich kaum etwas sehen kann. Mein Wut-und-Scham-Gemisch wird mit Ohnmacht und ängstlicher Sorge angereichert. Der selbst ernannte Radwegschützer hat ganz bewusst meine Fahrsicherheit beeinträchtigt, will mich kalkuliert gefährden. Ist es eventuell jemand, der auch Radmuttern lösen oder Bremsen manipulieren würde?

      „Moment“, versucht mein Kopf den Topf von der Flamme zu nehmen. „Jetzt übertreibst du aber. Ein verärgerter Radfahrer ist kein Killer, okay?“

      Meine Wut hält dagegen: „Der Typ – oder war es eine Frau? – muss die Aufkleber ja vorbereitet bei sich haben. Eine Bikerin, die diese Waffen ihrer Streitlust immer mit sich herumträgt wie ich meine Geldbörse oder den Wohnungsschlüssel. Eine permanent aggressive Autohasserin. Allzeit bereit, ihre arrogante Oberlehrerhaftigkeit durch Sachbeschädigung zu beweisen.

      Und wenn diese verdammten Bepper sich auch mit heißem Wasser und Spülmittel nicht ablösen lassen? Was kostet so eine Frontscheibe eigentlich? Zahlt das die Versicherung? Nie im Leben.“

      Die Heimfahrt wird zum Spießrutenlauf. Ich bilde mir ein, an jeder Ampel würden sich alle entgegenkommenden Fahrer kaputtlachen, warum jemand mit fünf Zetteln vor der Nase Auto fährt. In mein Wut-Scham-Ohnmacht-Angst-Gemisch wird jetzt noch eine Prise Demütigung gestreut. Gleich werde ich vor allen Fensterfronten unserer Nachbarn ankommen und hoffentlich von niemandem begrüßt werden …

      „Jetzt mal halblang“, schüttelt mein innerer Kopf den äußeren, „du aufgeregtes kleines Hähnchen! Plusterst dich hier auf und krähst! Ein Freund deiner Tochter wurde von türkischen Jugendlichen grundlos zusammengeschlagen und lag mit gebrochenem Nasenbein im Krankenhaus. Eine Kollegin von dir wurde in ihrer früheren Redaktion dermaßen gemobbt, dass sie sich während der Arbeitszeit heulend im Klo einschloss. Es werden Frauen vergewaltigt, es werden Kinder sexuell missbraucht und ermordet. Und du jammerst wegen fünf Aufklebern!“ Ich beginne mich über meinen Ärger zu ärgern.

      Dieses Buch ist kein Ratgeber nach dem Motto „Vergeben – leicht gemacht“.

      Es gibt genügend viele davon, und ich freue mich, wenn sie Leserinnen und Lesern helfen. Aber im Unterschied dazu wurde ich gebeten, Geschichten und Beobachtungen zu erzählen, die das hehre Wort Vergebung von seinem (oft hohen) Sockel herunter und in den Alltag hineinstellen. Die seinen fern strahlenden Heiligenschein erden – und zu einer nah und warm leuchtenden Zimmerlampe machen.

      Denn das kann die Vergebung sein: ein Licht, das die Räume unserer eigenen Seele wieder heimatlich, unsere Familien und Arbeitsplätze bewohnbar und unsere gesellschaftliche Zukunft verheißungsvoll macht.

      Vorher aber, auf dem Weg dahin, sollten wir den Begriff Vergebung getrost erst mal gegen den Strich bürsten. Gut, wenn wir dann feststellen können: Vergebung gilt. Auch in den „schweren Fällen“. Aber wir wollten es uns ja nicht – zu – einfach machen:

       Vergeben „kann“ man nicht einfach.

      In meiner kleinen Autobegebenheit konnte ich das einfach, weil es nur eine Bagatelle war und sich die Sache so leicht auflöste, wie sich die Aufkleber mit scharfen Putzmitteln auflösen ließen. Außerdem blieb und bleibt mein „Verletzer“ anonym. Ich kann ihm (leider) nichts Vergebendes sagen und ihm (zum Glück) nichts Rächendes antun. Dass Täter sich mit gewissem Recht als Opfer fühlen und Opfer manchmal eine gewisse Mitschuld an ihrer Schädigung tragen, war in meinem Fall offensichtlich und deshalb locker einzugestehen.

      Dass wir als Geschädigte nie nur mit den Fakten eines Konflikts, sondern immer und vielmehr mit unseren Gefühlen aus Wut, Scham und Demütigung zu kämpfen haben, bis wir uns zum Schluss mehr über unsere Reaktion als über die Tat ärgern – auch das konnte ich wegen der Beiläufigkeit der Sache schnell wegstecken.

      Aber kann der zusammengeschlagene Teenagerjunge mit seinem zeitlebens bleibenden Knick in der Nase der Türkengang vergeben? Jeder Blick in den Spiegel macht das unmöglich. „Auch du kannst vergeben“ – dies so lapidar einem gemobbten Arbeitnehmer oder einer vergewaltigten Frau, einem sexuell missbrauchten Kind oder den Angehörigen eines Ermordeten zu sagen, wäre wohl eher frommer Zynismus als zuversichtliche Ermutigung.

       Vergeben kann man auch nicht müssen.

      Obwohl es Christen manchmal so scheint. Mit Millionen gläubiger Menschen auf der ganzen Welt bitte ich am Sonntagmorgen im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

      Dabei empfinde ich leises Unbehagen. Weil mir etliche Menschen einfallen, denen ich eigentlich nicht vergeben habe. Oder es mir nur einrede, ihnen vergeben zu haben.

      Und weil dieses „wie“ im Vaterunser, dieses so selbstverständlich dahergemurmelte „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ einen kausalen Zusammenhang vorauszusetzen scheint, dass Gott uns nur dann und erst dann vergibt, wenn auch wir … – Ist das so?

      Dann wäre Vergebung doch eine Tugend. Eine menschliche Anstrengung, eine Eigenleistung meines edlen Charakters, mit der ich mir die Vergebung Gottes verdienen und herstellen kann: Erst muss ich mit Großzügigkeit, Güte und Versöhnungsbereitschaft zu den Tätern gehen, deren Opfer ich wurde, und dann zieht Gott nach und vergibt auch mir. Ist das so?

      Dann hätte der Apostel Paulus doch im Römerbrief des Neuen Testaments geschrieben: „So sind wir nun gerecht gemacht allein aus unseren Werken.“

      Hat er aber nicht. Sondern: „Ohne Zutun unserer Werke sind wir gerecht gemacht allein aus Gnade.“ (Römer 3,23)

      Gottes gnädige Nachsicht mit all dem, was Andreas Malessa im Laufe seines Lebens versäumt und versaut, sträflich unterlassen, fahrlässig verursacht und böswillig angezettelt hat – diese erstaunliche Gnade, diese viel besungene „Amazing Grace“ ist ein vorab und konditionsfrei überreichtes Geschenk Gottes. Eine „vorauslaufende Gnade“, wie Theologen sagen, eine Gnade, die ich für mich in Anspruch nehmen und gültig machen will. Aber nicht selber erzeugen oder erst auslösen muss.

      Warum aber steht das „Wie auch wir vergeben …“ dann trotzdem im Vaterunser? – Weil ich weiterschenken soll, was mir geschenkt wurde und permanent geschenkt wird.

      Jesus von Nazareth erzählt zur Veranschaulichung:

      Ein hoher Finanzverwalter schuldet der Regierung die astronomische Summe

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