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könnten. (Weshalb ich anfangs dachte, die Mauer sei gebaut worden, um die Russen bei ihrem Vormarsch auf meine Heimatstadt aufzuhalten.)

      Unser Kindermädchen hieß Regina und war mit einem Bergarbeiter verheiratet, der sie einmal dermaßen verprügelte, dass sie bei uns Unterschlupf suchte. Meine Großeltern stellten ihr im Waschkeller einen Liegestuhl auf. Das schien ihnen erstens standesgemäß, und zweitens war Regina damit nah bei der Waschmaschine, deren Bedienung schließlich zu ihrem Job gehörte. Regina und ihr Mann lebten in einer Zechensiedlung, Welten entfernt von unserer bürgerlichen Straße. Aber sie besaßen etwas, was es in unserem Bildungsbürgerhaushalt noch nicht gab: einen Fernseher. Bevor Regina von ihrem Mann vermöbelt wurde, durften wir Kinder dort unsere erste TV-Sendung sehen: Peterchens Mondfahrt, in Schwarz-Weiß.

      Regina schaute nicht nur, dass wir Kinder keinen Unsinn veranstalteten, sondern vermittelte uns auch ethnologisches und anthropologisches Basiswissen. Meine Vorliebe für das Nagen an Apfelsinenschalen fand ein jähes Ende, als sie mich darüber aufklärte, wie unsauber diese seien. Diese Früchte wuchsen nämlich nicht in unserem Garten, sondern stammten aus Afrika. Und bevor sie in Europa eintrafen, hatte sie „der Neger angefasst!“.

      „Der Neger“ war aber wenigstens weit weg. Unsere Alarmbereitschaft galt deshalb mehr dem Russen, der direkt vor unserer Tür stand. Auf meine Frage, was am Russen so gefährlich sei, wusste unser Kindermädchen eine ähnlich überzeugende Antwort wie im Falle der Apfelsine: „Der Russe hat vier Augen – zwei vorne, zwei hinten. Der sieht alles!!!“

      Zu meinen Lieblingsspielen gehörte die Befreiung der Brüder und Schwestern in der DDR, für die wir an jedem Heiligabend nach der Bescherung ein Lichtlein in die beiden großen, zur Straße gerichteten Fenster stellten. Weihnachten stand vor der Tür, wenn man eine Mark zur Schule mitnehmen musste, um Kerze samt Untersatz zu erwerben. Aus meinen Bilderbüchern baute ich die Berliner Mauer. Dahinter rebellierte das Volk gegen diese Männer mit den vier Augen. Das Volk der Geknechteten bestand aus etwa 30 „Zweier-Legosteinen“. (Später schafften es diese rüber in den Westen – sie wurden zu Zuschauern in meinen Lego-Stadien.) Vorne ließ ich meinen einzigen Spielzeugpanzer auffahren. Damit der vieräugige und überall lauernde Russe das nicht sah, kippte ich den Tisch in meinem Zimmer um und benutzte ihn als Sichtschutz. Denn „der Russe“ war längst in unserer Straße. Eines Tages hatte ich aus meinem Fenster auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig einen Mann gesehen, der eine Pelzmütze trug, wie sie nur Russen tragen konnten.

      * * *

      Es kam die WM 1966. Und mit ihr die Erkenntnis, dass der Russe zwar keine vier Augen besaß, wohl aber unendlich viele Arme. Jedenfalls, wenn er ein Fußballtorwart war und Lew Jaschin hieß. Jaschins Karriere befand sich bereits auf der Zielgeraden. Knapp drei Monate nach der WM wurde er 37.

      Die WM in England war die erste, die ich intensiv verfolgte. Mittlerweile besaßen wir einen eigenen Fernseher (genauer: meine Großeltern besaßen und hüteten ihn), nachdem unser Hausarzt, Dr. Funke, meine Eltern davon überzeugt hatte, dass der Konsum von Fernsehsendungen nicht grundsätzlich schädlich sei – jedenfalls nicht, wenn dieser in vernünftigen Maßen erfolgen würde. Und auf das „vernünftige Maß“ achtete man in unserem Haus penibel.

      Die WM 1966 war für mich überhaupt die erste Gelegenheit, Fußballspiele im Fernsehen zu verfolgen. Das deutsche Auftaktspiel gegen die Schweiz (5:0) verpasste ich noch, da ich nicht wusste, dass auch unser Gerät dieses zeigen würde. Das zweite Gruppenspiel gegen Argentinien (0:0) sah ich zufällig auf einem Kindergeburtstag, zu dem ich im Schlepptau von Schwester und Kusine Einlass gefunden hatte. (Und zu dem ich eigentlich nicht wollte.) Der Vater des Gastgebers war Schulleiter, wie mein eigener Vater, aber im Gegensatz zu meinem ein Fußball- und Sportfan. Dass ich bei ihm die Übertragung sehen konnte, machte mir klar: Zumindest bestand technisch die Möglichkeit, diese Fußballspiele auch in unserem Milieu zu verfolgen, dass wir also keine anderen Geräte hatten als die Menschen in den Zechensiedlungen. Vom Rest der deutschen Auftritte verpasste ich nicht eine Sekunde.

      In Erinnerung blieb mir insbesondere das Halbfinale gegen die Sowjetunion. Wegen dieses fantastischen „russischen Torwarts“ Lew Jaschin, optisch der präsenteste Akteur im Goodison Park von Liverpool, noch heute Heimstatt des FC Everton. Eigentlich war es eine Begegnung Bundesrepublik Deutschland gegen Jaschin. Denn die Elf von Bundestrainer Helmut Schön war die deutlich bessere. Dass es am Ende nur 2:1 für Uwe Seeler und Co. hieß und die Deutschen sogar noch einige Minuten um den Einzug ins Finale zittern mussten, verdankte das „CCCP-Team“ allein Lew Jaschin.

      Dank meiner vom Kalten Krieg geprägten Frühsozialisation und den Erzählungen von den vieräugigen Menschen hatte dieser große und ganz in Schwarz gekleidete Torwart für mich noch immer etwas Unheimliches. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas, das darauf hindeutete, dass die Deutschen, sofern sie Fußballer waren oder sich zumindest für das Spiel interessierten, zu diesem Russen eine Beziehung hatten, die nicht von Angst und Hass geprägt war, sondern von Respekt, ja großer Bewunderung. Trotz der Eiszeit des Kalten Krieges war Jaschin auch im Westen enorm beliebt. Nicht nur, weil er der unbestritten weltbeste Torwart war. Auch seine Bescheidenheit, Fairness und menschliche Wärme wurden gepriesen. Uwe Seeler nannte ihn einen „ungemein sympathischen Sowjetrussen“. Als Sportler wie als Mensch wurde Jaschin anders wahrgenommen als andere sowjetische Athleten, die auf grimmige Soldaten eines vor Westlern hermetisch abgeschirmten Kollektivs reduziert wurden.

      * * *

      Anfang November 2016 traf ich Uwe Seeler zu einem Gespräch über Lew Jaschin. Wir verabredeten uns im Ristorante la Veranda in Norderstedt, wo die Veteranen des HSV ihre eigene Ecke haben, die einem kleinen Museum ähnelt. Seeler erzählte von seinem unmittelbar bevorstehenden 80. Geburtstag und dass er diesen mit seiner Familie in einem Nebenraum des Restaurants feiern würde. Jaschin hatte er in allerbester Erinnerung. Nicht nur als Torhüter, sondern auch als Mensch. Die beiden waren sich wiederholt begegnet, u. a. in der Europaauswahl und bei der WM in England, woraus ein regelmäßiger Austausch entstand, der auch die Frauen der beiden Fußballhelden, Ilka und Walentina, einbezog. Auch nach dem Tod des Torhüters wurde der Kontakt zunächst noch weitergepflegt. Uwe Seeler: „Aber dann hat sich das irgendwie verlaufen.“

      Im Gespräch drückte Seeler, im Übrigen ebenfalls ein ungemein sympathischer Mensch, sein Erstaunen darüber aus, dass Jaschin bei den internationalen Zusammenkünften ein besonderes Interesse an den deutschen Kollegen gezeigt habe. Obwohl der Krieg doch noch gar nicht so lange her gewesen sei und die Bundesrepublik und die UdSSR eigentlich „verfeindete Nationen“ gewesen seien. Seeler: „Jaschin war immer sehr deutschfreundlich. Er hat uns ja fast geliebt. Wir haben Politik und Fußball völlig getrennt – und die auch. [Gemeint sind die sowjetischen Spieler in den internationalen Auswahlmannschaften. Anm. d.A.] Die wussten sicherlich auch, dass wir anders ticken als die Politiker.“

      Ich erzählte ihm, dass ich in einigen Wochen nach Moskau fahren würde, um Walentina Jaschina zu treffen. Als wir uns verabschiedeten, gab mir Seeler mit auf den Weg: „Bitte grüßen Sie Walentina ganz herzlich von mir und meiner Frau!“ Seeler bat darum nicht einmal, sondern dreimal. Es war ihm ganz offensichtlich ein Herzensanliegen.

      * * *

      Anfang Februar 2017 war es dann so weit. Dank der Hilfe von Lothar Szych, zu dieser Zeit noch Leiter des Referats für Arbeit, Soziales und Gesundheit an der Deutschen Botschaft in Moskau, und Oxana Grischenko, die in Moskau für die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet. Oxanas Vater hatte in den 1970ern selber für Jaschins Klub Dynamo Moskau gespielt.

      Den Flug hatte ich bereits im Dezember gebucht, das Visum im selben Monat beantragt. Aber grünes Licht kam erst 24 Stunden vor meinem Abflug. Zuvor gab es gewisse Bedenken, ob das Treffen zustande kommen würde. Schließlich sei Walentina Jaschina bereits 87.

      Jaschina schlug als Ort des Treffens das „7 Element“ in der Novopeschanaja Ulitza 10 vor. Ein kleines nettes Café und Restaurant am Eingang eines Parks, fußläufig zur Metro-Station Sokol an der Ausfallstraße Leningradski Prospect. Zwei Stationen weiter südwestlich befindet sich das Stadion von Jaschins Klub Dynamo Moskau, das über eine eigene Metro-Station verfügt. Es ist eine der wenigen U-Bahn-Stationen, die nach einem Fußballverein benannt sind. (In Europa ist mir nur noch die U-Bahn-Station „Arsenal“

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