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Bewegungen nicht das eigentlich ihn Erfüllende, sondern nur Ausstrahlungen. Er las, geriet in Zwiespalt und Betrachtung, raffte sich auf, bekämpfte, ordnete, überblickte, aber alles das hatte mit seiner Lektüre gar nichts mehr zu tun.

      Um seiner Bedrängnis einigermassen Herr zu werden, begann er wieder viel draussen herumzuwandern. Dabei kam er eines Nachmittags zu einer kleinen entlegenen Bauernschenke in der Nähe der sogenannten Polen-Mühle. Er hielt Einkehr und liess sich ein Glas Wein geben. Zufällig fiel sein Blick in ein von einer Talgkerze erhelltes Seitenzimmerchen, und dort sah er Beate, dicht und zärtlich an den hünenhaften Knecht geschmiegt, mit dem sie auf dem Jahrmarkt getanzt hatte. Arnold achtete nicht sonderlich darauf. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Es war der „Mährische Landbote“. Gleichgültig las er, bis sein Blick auf eine telegraphische Meldung fiel, des Inhalts, dass der Jude Glasser beim Justizminister zur Audienz vorgelassen sei. Mehr stand nicht darüber, aber dies befriedigte Arnold so vollkommen, dass er munter pfeifend seinen Weg fortsetzte.

      Vor dem Postamt auf dem Hauptplatz gewahrte er Specht. „Wie geht es Ihnen?“ fragte der Lehrer mit so übertrieben liebevollem Tonfall, dass Arnold ihn misstrauisch anblickte.

      „Glasser ist beim Justizminister — wissen Sie schon?“ sagte Arnold. Wie er so dastand, ein wenig vorgebeugt, mit listig spähendem Blick, das erregte Maxim Spechts Lachlust, und er erwiderte: „Spass! Schon längst gewesen.“

      „Nun, und ist Jutta schon frei?“ fragte Arnold.

      „Frei? Meinen Sie wirklich frei?“ Specht lachte belustigt. Da er aber bemerkte, wie sich in Arnolds Gesicht wieder jener Zorn sammelte, dessen Äusserung er fürchtete, sagte er schnell: „Der Minister hat sich sehr gut benommen, o ja. Er hat dem armen Vater auf die Schulter geklopft, das tut ein Minister in solchen Fällen stets, und hat ihn mit den Worten entlassen: ,Fahren Sie ruhig nach Hause; das Kind wird Ihnen zurückgegeben werden.‘“

      Arnold nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Den Spott in dem Bericht des Lehrers begriff er nicht.

      „Sie scheinen ganz einverstanden zu sein,“ fuhr Specht munter fort, „aber nun weiter. Der Minister beauftragt den Staatsanwalt, beim Landgericht die Strafanzeige wegen Entführung zu erstatten. Er verlangt ferner, dass ein gerichtlicher Auslieferungsbefehl geschrieben und dem Kloster zugestellt wird. Und was, meinen Sie, geschieht darauf? Die Ratskammer des Landgerichts lehnt diese Anträge einfach und rundweg ab.“

      „Das wissen Sie doch noch nicht“, versetzte Arnold unwillig. Er missverstand Spechts lebendige Wiedererzählung, durch welche die Zeitwörter in der Gegenwartsform erschienen.

      Maxim Spechts Mienen wurden feierlich. „Was für ein Unglück für Sie, lieber Freund, dass Sie so unerfahren sind!“ rief er aus und schlug die Hände zusammen. „Allerdings hätte ich es vorher nicht wissen können, denn so weit kann sich der frechste Pessimismus nicht versteigen. Aber es ist geschehen, ist schon geschehen.“

      Arnold schwieg. Er schaute den Lehrer studierend an, als mangle ihm in diesem Augenblick das Zutrauen in dessen Worte. Besinnend zur Erde blickend, schüttelte er den Kopf.

      „Und noch etwas, lieber Freund, das ist noch nicht alles“, fuhr Specht mit leiser Stimme fort und zog Arnold ein wenig von den Häusern weg. „Der Advokat Glassers wollte die Akten sehen, in denen dieser Beschluss stand. Das erlaubt das Gesetz. Man sieht aus den Akten die Begründung des Urteils. Denn schliesslich sollte doch jedermann wissen dürfen, warum die Ratskammer das Verlangen des Justizministers abschlägt. Und auch das ist nun verweigert worden, auch das.“ Specht suchte erregt in seiner Tasche, nahm einen Zettel heraus, entfaltete ihn und sagte: „Ich habe mir von dem Dekret eine Abschrift genommen. Hören Sie!“ Arnold trat dicht neben Specht, so dass er beim dürftigen Schein einer Öllaterne mitlesen konnte, was Specht murmelnd vorlas. „An den Landesadvokaten Dr. Steinbacher. Ohne die Frage zu entscheiden, ob Samuel Elasser in dieser Angelegenheit als Privatbeteiligter anzusehen sei —“

      „Was heisst das?“ unterbrach Arnold.

      „Das? Das ist ein Schnörkel, den niemand auf Gottes Welt verantworten kann. Es ist nämlich nicht entschieden, heisst das, ob es den Glasser etwas angeht, wenn ihm sein Kind gestohlen wird. Also weiter . . . anzusehen sei, wird die Einsichtnahme in die Akten betreffs der Sache Jutta Glasser verweigert, weil wichtige Gründe dem im Wege stehen. Das Landesgericht in Strafsachen.“ Specht faltete seinen Zettel wieder zusammen.

      „Wichtige Gründe?“ fragte Arnold, der immer noch nicht völlig glauben wollte und keiner Lüge auf den Grund zu kommen fähig war. Fassungslos schaute er dem Lehrer ins Gesicht, und allmählich begriff er selbst, dass diese wichtigen Gründe in den zwei Worten bestanden, die sie vorgeben sollten.

      „Nun spüren Sie den Atem unserer Welt“, sagte Specht mit Bitterkeit. „Heute war ein Herr von Gröden bei mir, Gerichtsadjunkt in Lomnitz. Er sollte sich im Auftrag der Regierung über die Stimmung unterrichten, die unter den Gutsbesitzern für oder gegen die ganze Geschichte herrscht. Ich habe ihm ein Licht aufgesteckt, ich habe unter anderm auch von Ihnen gesprochen. Aber glauben Sie denn, dass das etwas nützen wird? Nicht einen Pfifferling. Die grossen Herren tun, was sie wollen, und der kleine Jud mag sehen, wie er zu seinem Recht kommt. Wir beide werden es nicht erleben.“

      Arnold hörte das alles nicht. Er stand und schien zu überlegen, welchen Weg er zu nehmen habe, um nicht einem furchtbaren Gespenst in die Arme zu laufen, das aus der Nacht emporstieg.

      Langsam und ohne Gruss entfernte er sich von Specht. Er hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt, so holte ihn der Lehrer ein.

      „Ich sage Ihnen adieu, ich reise morgen früh“, sagte Specht. „Ich möchte Sie um einen grossen Gefallen bitten“, fügte er mit unsicherer Stimme hinzu und zog ein braunes Kuvert aus der Manteltasche. „Wollen Sie zu Hankas gehen und dies Beate geben? Nur ihr selbst und wenn niemand sonst dabei ist —? Wollen Sie das? Und grüssen Sie Agnes Hanka noch besonders von mir.“

      Arnold nickte und nahm das Ding in Empfang.

      „Und nun, Liebster, leben Sie wohl!“ sagte Specht, indem er Arnold die Hand gab. „Sollte Sie das Geschick einmal dorthin führen, dann wissen Sie, wo Sie einen Freund haben. Leben Sie wohl, Arnold! Von Ihnen scheide ich am schwersten.“ Schnell wandte er sich ab und ging.

      Als Arnold nach Hause kam, entfiel dem offenen Kuvert der Inhalt. Es war die Photographie Beates; auf dem Bilde stand: Zur Erinnerung an den herrlichen 7. Oktober. Obwohl von ländlicher Unvollkommenheit, war das Porträt doch ähnlich; das Gesicht über dem nackten Hals und den halbentblössten Schultern hatte einen unschuldigen und süssen Ausdruck. Wie Sterne unter dunklen Torbogen traten die Augen unter den Linien der Brauen hervor. Arnold konnte eine Empfindung der Seringschätzung nicht unterdrücken, die Maxim Specht galt, dem so rachsüchtig offenen Kuvert und der Wichtigkeit, die der Lehrer all diesem beimass.

      Seine angstvollen und heissen Gedanken waren ganz woanders, und er bemerkte gar nicht, dass die Mutter, schweigsam und bleich auf dem niedrigen Sofa liegend, dumpf vor sich hinstöhnte.

Elasser

      Dreizehntes Kapitel

      Alexander Hanka hatte grosse Spielverluste erlitten. Als er eines Sonntags mit Entschlossenheit an eine Berechnung ging, erschrak er vor der Schmälerung, die sein Vermögen erlitten hatte, und vor dem Zeugnis, das sich wider ihn selbst und die verbrachte Zeit erhob. Damit verband sich die Galerie tausendmal gesehener Gesichter, tausendmal passierter Gassen und Plätze, tausendmal berührter Gegenstände, tausendmal gesprochener gleichgültiger Worte, tausendmal gedachter, kraftloser Gedanken. Jede Nacht, wenn er sich entkleidete, träumte er von einem zu fassenden Entschluss; irgendein Geschehnis winkte in weiter Ferne. Am andern Tag rollte er wieder auf den blanken Schienen der Gewohnheit durch dieselben Stationen wie am Tag vorher.

      Unwillkürlich begannen seine Gedanken sich zu erheben und flatterten aus der Stadt wie Schmetterlinge, die ihre Raupenhülle verlassen. Die Einsamkeit einer Wüste dünkte ihm erträglich gegenüber der Einsamkeit in dem Häusermeer. Im Geiste sah er sich wieder in dem mährischen Örtchen, und sein Herz schuf sich Landschaften von eigenwilliger Art: langgestreckte Hügel, mit Nadelwald

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