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      »Quarrie.«

      Gilles Auchinleck führte mich die Treppe zum alten Hörsaal des Instituts hinauf: im Halbkreis aufsteigende Bankreihen vor einem hölzernen Podium, hinter dem ein gewaltiges Gruppengemälde hing.

      »1834«, sagte er. »Die Gründungsmitglieder. Dort steht Quarrie neben seiner berühmten Pumpe.«

      Ich trat vor, folgte seinem Zeigefinger und starrte auf das gut ausgeführte Porträt eines rundlichen Mannes mit rosigem Gesicht, dessen Seidenweste über dem Bauch spannte, eher Landadel als das Idealbild eines viktorianischen Ingenieurs.

      »Quarrie machte ein Vermögen mit dieser Pumpe«, sagte Auchinleck. »Um die Jahrhundertmitte war sie in jeder Kohlengrube der Welt vertreten.«

      Er redete weiter, aber ich hörte nicht zu, weil mein Blick von einer düsteren Gestalt im Hintergrund gefesselt wurde – ein Mann im dunklen Anzug mit einer merkwürdigen weißen Seidenschleife um den Hals. Er hielt eine brennende Zigarre in der Hand, seine Augen schienen direkt aus der Leinwand herauszustarren. Seine Züge waren eingefallen und hager – man fragte sich, ob durch Krankheit oder Laster –, aber das Auffälligste an ihm war der breite Schnurrbart, der sich dunkel über sein bleiches Gesicht spannte, mit Enden, die über die Mundwinkel ragten und sich in sorgfältig gestutztem Schwung nach oben bogen.

      »Wer ist der Mann?«, fragte ich, mit dem Finger auf ihn zeigend. »Der im Hintergrund.«

      »Gute Frage«, sagte Auchinleck. »Wenn wir in die Bibliothek hinuntergehen, kann ich es Ihnen genau sagen.«

      »Edinburgh, 17. August. Es heißt, dass die Macht eines Blicks unter gewissen Umständen körperlich spürbar ist (vielleicht ist auch der Blick eine Art Welle?) und, falls er intensiv genug ist, den Empfänger zum Hinsehen zwingen kann. Doch das Mädchen hinter der Bar, das ich jetzt seit fünf Minuten anstarre, raucht unbeeindruckt weiter, schaut überallhin, nur nicht zu mir. Sie ist natürlich dunkelhaarig, jung, mit schwachen Aknenarben seitlich ihres breiten Munds. Als sie mir meinen vierten großen Scotch mit Wasser einschenkte, sah ich, dass ihre Fingernägel bis auf die Wurzeln abgekaut waren. Sie ist groß, hat eine jungenhafte Figur, und ihr Haar ist zu Stacheln gegelt. Ich sitze hier schreibend in der Ecke, aber das Verlangen nach ihr spüre ich wie einen Schmerz in den Eingeweiden. Ich werde hier weitertrinken bis Lokalschluss und sie dann bitten, mit mir ins Hotel zu kommen. Es gibt jetzt einen Unterschied: Ich erlebe den Wahnsinnsanfall, die Besessenheit – was immer es ist – inzwischen weniger unmittelbar, und ich merke deutlich, wann es losgeht. Hat das zu bedeuten, dass diese Sache langsam ihre Macht über mich verliert? Oder nur, dass ich lerne, damit zu leben wie ein Pflegefall mit seiner chronischen Inkontinenz? Aber es ist, als würde ein Teil meines Gehirns unter meiner Kontrolle bleiben … Und doch werde ich jetzt nicht aufstehen und dieses Lokal verlassen.«

      Wallace Kilmaron. Wallace Kilmaron. So hieß der Mann mit Zigarre und Schnurrbart, den ich auf dem Gemälde gesehen hatte. Auchinleck konnte ihn anhand einer Liste identifizieren, auf der die vielen Porträtierten (etwa dreiunddreißig insgesamt) erfasst waren, und er gab mir ein paar Informationen. Kilmaron war ein Fachmann für Wasserwirtschaft gewesen und hatte viel in Holland gearbeitet, wo er als Koryphäe galt, wenn es um den Bau von Dämmen, Kanälen und komplizierten Entwässerungssystemen bei der Landgewinnung ging. Gelebt hatte er von 1796 bis 1840. Auchinleck wusste nicht, woran er gestorben war, aber selbst nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts war er nicht alt geworden. Fast noch interessanter schien, dass er 1835 aus dem Institut ausgeschieden war – daher die wenigen Kenntnisse über ihn. »Die meisten Mitglieder haben uns ihre Archive überlassen«, erklärte Auchinleck, »was zum Teil auch Gründungszweck des Instituts war. Hier muss irgendetwas schiefgelaufen sein – zu Kilmaron haben wir außer diesen paar Basisdaten keine Unterlagen, fürchte ich.« Als wäre er in irgendeiner Weise verantwortlich für diesen Umstand, war Auchinleck so entgegenkommend, einen Freund in der Schottischen Nationalbibliothek anzurufen und für den nächsten Tag einen Termin im Lesesaal zu arrangieren, wo alles, was die Bibliothek über Kilmaron zur Verfügung habe, bereitgestellt werde.

      Ich kam zu früh und ging in ein Café, um die Öffnungszeit abzuwarten. In mir spürte ich eine starke Anspannung, geboren aus der verrückten Gewissheit, dass die Antwort auf alle meine Fragen in jenem grauen Sandsteingebäude für mich bereitlag. Außerdem war ich verkatert – meine nächtliche Trinkorgie hatte nichts gebracht außer einem bohrenden Kopfschmerz, und auch die Beschämung über meine vergebliche Liebesattacke auf das Mädchen hinter der Bar war nicht dazu angetan, meine Stimmung zu bessern. Das Mädchen hatte nur mit Mühe die Energie aufgebracht, mich zurückzuweisen, so als ob ihm solche Dinge jeden Abend passierten – dass ein betrunkener Gast mittleren Alters es mit anzüglichem Grinsen zu einem Schlummertrunk in sein Hotel einlud. Doch während ich im Café saß und versuchte, ihren verächtlichen Blick zu vergessen und mich auf das Kreuzworträtsel im Scotsman zu konzentrieren, aber gedankenverloren auf die Straße starrte, wo sich der morgendliche Nieselregen in der Gosse sammelte, spürte ich meine rechte Seite kalt werden, als hätte sie Zug bekommen, und plötzlich bewegte sich meine rechte Hand mit dem Stift quer über die Karos des Kreuzworträtsels und zeichnete eine ganze Serie von Andreas-Wellen. Erst als ich an die zwölf dieser X-Figuren verfertigt hatte, brachte ich meinen Arm wieder unter Kontrolle.

      Diesmal betrachtete ich das Ergebnis ohne Panik oder Furcht; ich sah darin eher eine Art Botschaft, die mir der – ja, wer? –, sagen wir, der Schatten von Wallace Kilmaron zukommen ließ, als würde er mir aus vielen Jahrzehnten Entfernung seine Glückwünsche zuflüstern. Und auf der anderen Straßenseite sah ich nun den Pförtner, der das schwere Holztor der Bibliothek für das Publikum öffnete.

      Wallace Kilmaron war im Alter von vierundvierzig Jahren als enttäuschter und verbitterter Mann gestorben – an einer »Entzündung der Lunge und des Bauches«, mit anderen Worten an Ursachen, die der damaligen Medizin unbekannt waren. Bis dahin hatte er etwa ein Dutzend wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht, meist in den gelehrten Journalen seines Fachgebiets. Ein schmales Büchlein mit dem Titel Über ein Phänomen der turbulenten Strömung, privat gedruckt bei einem Buchhändler in Leith, war jedoch in der Bibliothek vorhanden. Erschienen war es 1835, und die Lektüre dieses Buches sowie der drei Nachrufe und einer Korrespondenz im Jahrbuch für Bauwesen reichten aus, um das Bild von Wallace Kilmaron zu vervollständigen.

      Im Jahr 1833 war Wallace Kilmaron in ein großes Vorhaben zur Trockenlegung des Landes zwischen der Waal und dem holländischen Niederrhein eingebunden, das eine Fläche von etlichen Dutzend Quadratkilometern mit einem komplizierten Netz von Entwässerungskanälen überzog. Eines Tages war in einem der Kanäle eine Schute gesunken (ein schmaler, flacher Lastkahn für den Abtransport von Schutt und Schlamm), und während der Bemühungen, die Schute flottzumachen (unter Einsatz von Pferden und Seilwinden), hatte das Anheben und Absacken der Schute an den Rändern des Kanals eine Reihe von turbulenten Wellen erzeugt. Kilmaron, der am Kanalrand stehend die Bergung überwachte, hatte bemerkt, dass diese Wellen »dahineilten wie die Wogen eines Peitschenriemens« und sich »ohne Änderung der Gestalt und ohne Verminderung der Geschwindigkeit« im Kanal fortpflanzten. Kilmaron beschloss, diesen Wellen in ihrem Verlauf zu folgen. Er notierte, er sei Hunderte von Metern mit einer dieser »Wogen«, wie er sie nannte, am Kanal entlanggegangen, und verglich sie mit einer Gezeitenwelle, »einer gerundeten, klar umrissenen Erhebung des Wassers«. Er bemerkte zudem, dass sich die Woge, wenn der Kanal die Richtung änderte, scheinbar in kleinere Wellen zerlegte und dann, wenn sich der Kanal geradeaus fortsetzte, auf magische Weise wieder zur ursprünglichen Form zurückfand, »als sei in der Turbulenz des Wassers eine Erinnerung an die ursprüngliche Eigenart der Woge enthalten«.

      Die Entdeckung dieses Phänomens faszinierte Kilmaron so sehr, dass er eine große Holzplattform baute, die auf der Wasseroberfläche schwamm und durch eine geschickte Verteilung von Gewichten dazu gebracht wurde, um eine feste Achse zu wippen und auf Wunsch gleichförmige Wogen zu erzeugen – oder »kohärente Wellen«, wie er sie jetzt nannte. Wochenlanges Experimentieren ermöglichte ihm, zu einem gewissen Verständnis des Phänomens zu gelangen, das er in der wissenschaftlichen Abhandlung, die er schrieb, nicht als Turbulenz, sondern vielmehr als eine Form der Resonanz darstellte, eher als Ausdruck einer Ordnung statt als chaotischen Ablauf,

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