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zu wahrhaftig völlig aus dem Meer gehoben! Oh, Schrecken folgt auf Schrecken! – Das Eis öffnet sich plötzlich zur Rechten und zur Linken, und wir wirbeln schwindelerregend in ungeheuren, konzentrischen Kreisen rund um die Wand eines gigantischen Amphitheaters herum, deren oberer Rand sich in der Dunkelheit und der Entfernung verliert. Aber es wird mir wenig Zeit bleiben, über mein Schicksal nachzusinnen – die Kreise werden schnell kleiner – wir treiben wie toll in der Gewalt des Strudels – und inmitten des Tosens, Brausens und Donnerns von Meer und Sturm bebt das Schiff, o Gott! – und geht unter.

      Anmerkung: »Ein Manuskript per Flaschenpost« wurde ursprünglich 1831 veröffentlicht, und erst viele Jahre später lernte ich die Karten von Mercator kennen, auf denen der Ozean dargestellt wird, als rausche er durch vier Mündungen in den Schlund des (Nord-)Pols, um von den Eingeweiden der Erde aufgesogen zu werden; den Pol selbst stellt ein schwarzer Felsen dar, der sich in ungeheure Höhen emportürmt.15

      1833 Übersetzung von Erika Engelmann

      Das Stelldichein16

      Wart auf mich dort! Ich werde nicht fehlen,

      Dich in jenem hohlen Tal zu treffen.

      (Leichenrede beim Tode seiner Gattin von Henry King, Bischof von Chichester.)

      Unglückseliger und rätselhafter Mann! – Verwirrt von dem Feuer deiner eigenen Phantasie und in die Flammen deiner eigenen Jugend gestürzt! Wieder sehe ich dich vor mir! Noch einmal ist deine Gestalt vor mir erstanden! – nicht – oh, nicht wie du bist– in dem kalten Tal und Schatten–, sondern wie du sein solltest – ein Leben herrlicher Gedankenverlorenheit vergeudend in jener Stadt trüber Visionen, deinem eigenen Venedig, das ein von den Sternen geliebtes Elysium des Meeres ist, und die weiten Fenster seiner Palladio-Paläste17 schauen mit tiefer und bitterer Bedeutung hinunter auf die Geheimnisse seiner stillen Wasser. Ja! Ich wiederhole es – wie du sein solltest. Sicherlich gibt es andere Welten als diese – andere Gedanken als die Gedanken der Menge – andere Erwägungen als die Erwägungen des Sophisten. Wer denn sollte Bedenken gegen dein Vorgehen erheben? Wer dich deiner träumerischen Stunden wegen tadeln oder diese Beschäftigungen als ein Verschwenden des Lebens rügen, die ja nur die Überflutungen deiner immerwährenden Kräfte waren?

      Es war in Venedig, unter dem gedeckten Bogengang dort, der Ponte di Sospiri genannt wird, dass ich die Person, von welcher ich spreche, zum dritten oder vierten Male traf. Verwirrt ist die Erinnerung, mit der ich mir die Umstände jenes Treffens ins Gedächtnis rufe. Jedoch erinnere ich mich – oh! wie könnte ich es vergessen? – an die tiefe Mitternacht, an die Seufzerbrücke, an weibliche Schönheit und an das Genie der Romantik, das den schmalen Kanal auf und ab schritt.

      Es war eine Nacht von ungewöhnlicher Düsterkeit. Die große Uhr der Piazza hatte die fünfte Stunde des italienischen Abends eingeläutet. Der Platz des Campanile lag still und verlassen da, und die Lichter in dem alten Dogenpalast starben schnell dahin. Ich kehrte von der Piazzetta über den Canal Grande nach Hause zurück. Aber als meine Gondel gegenüber der Mündung des Kanals von San Marco ankam, brach plötzlich eine weibliche Stimme aus ihrem tiefsten Grund in einem wilden, hysterischen und lang andauernden Schrei über die Nacht herein. Der Klang ließ mich erbeben, und ich sprang auf, während der Gondoliere sein einziges Ruder entgleiten ließ und es in der pechschwarzen Dunkelheit für immer verlor, und so waren wir der Führung der Strömung überlassen, die sich hier von dem größeren in den kleineren Kanal fortsetzt. Wie ein ungeheurer schwarzgefiederter Kondor trieben wir langsam hinunter zur Seufzerbrücke, als Tausende von Leuchtern von den Fenstern und Treppenhäusern des Dogenpalastes her aufflammten und die tiefe Düsternis plötzlich in einen bleifarbenen und übernatürlichen Tag verwandelten.

      Ein Kind war den Armen seiner eigenen Mutter entglitten und von einem der oberen Fenster des hohen Bauwerks in den tiefen, trüben Kanal gefallen. Die stillen Wasser hatten sich sanft über ihrem Opfer geschlossen; und obgleich meine eigene Gondel die einzige in Sicht war, hatte sich manch ein kühner Schwimmer schon in den Strom geworfen und suchte an der Oberfläche vergebens nach dem Schatz, der, o weh! nur in dem Abgrund zu finden war. Auf den breiten schwarzen Marmorplatten am Eingang des Palastes und ein paar Stufen über dem Wasser stand eine Gestalt, die niemand, der sie damals gesehen, seither je vergessen haben kann. Es war die Marchesa Aphrodite – die Angebetete ganz Venedigs – die Strahlendste der Strahlenden – die Lieblichste, wo alle schön waren – aber dennoch die junge Gattin des alten und arglistigen Mentoni und die Mutter jenes hübschen Kindes, ihres ersten und einzigen, das jetzt tief unter dem finsteren Wasser mit bitterem Herzen ihrer süßen Liebkosungen gedachte und sein kleines Leben in dem Bestreben, ihren Namen zu rufen, aushauchte.

      Sie stand allein. Ihre kleinen, bloßen und silbrigen Füße schimmerten unter ihr in dem schwarzen Spiegel von Marmor. Ihr Haar, aus seiner Ballsaalfrisur bislang nicht mehr als halb für die Nacht gelöst, wand sich inmitten einer Fülle von Diamanten gekräuselt wie eine junge Hyazinthe rund um ihren klassischen Kopf. Ein schneeweißes und gazeartiges Gewand schien fast die einzige Bedeckung ihrer zierlichen Gestalt zu sein; aber die Mittsommer- und Mitternachtsluft war heiß, träge und still, und keine Bewegung in der statuenhaften Gestalt selbst regte auch nur die Falten jenes Kleidungsstückes aus reinstem Dunst, das um sie hing wie der schwere Marmor um Niobe18 hängt. Jedoch – seltsam! – ihre großen, leuchtenden Augen waren nicht nach unten gewandt auf das Grab, in dem ihre strahlendste Hoffnung begraben lag – sondern starrten gebannt in eine ganz verschiedene Richtung! Das Gefängnis der Alten Republik ist, denke ich, das stattlichste Gebäude in ganz Venedig – aber wie konnte jene Dame ihren Blick so fest darauf heften, wenn tief unter ihr ihr einziges Kind im Ersticken lag? Auch gähnt jene dunkle, düstere Nische direkt gegenüber dem Fenster ihres Gemachs – was also konnte da in ihrem Schatten sein – in ihrer Bauweise – in ihren efeuumschlungenen und ehrfurchterweckenden Gesimsen – worüber die Marchesa di Mentoni sich nicht tausendmal zuvor gewundert hatte? Unsinn! – Wer erinnert sich nicht daran, dass in einem Moment wie diesem das Auge wie ein gesprungener Spiegel die Bilder seines Kummers vervielfältigt und an unzählbaren, weit entlegenen Orten den Gram sieht, der dicht bevorsteht?

      Viele Stufen über der Marchesa und innerhalb des Wasserportals stand in voller Bekleidung die satyrgleiche Gestalt Mentonis selbst. Er war gelegentlich damit beschäftigt, auf einer Gitarre zu klimpern, und schien wahrhaft zu Tode ennuyé, als er zwischenzeitlich Anweisungen für das Auffinden seines Kindes gab. Benommen und entsetzt hatte ich selber nicht die Kraft, mich aus der aufrechten Stellung zu rühren, die ich eingenommen, als ich den Aufschrei anfangs gehört hatte, und muss den Augen der erregten Gruppe eine gespenstische und unheilvolle Erscheinung geboten haben, wie ich mit bleichem Antlitz und starren Gliedern mitten unter ihnen in jener Begräbnisgondel dahintrieb.

      Alle Anstrengungen erwiesen sich als umsonst. Viele der am eifrigsten Suchenden ließen in ihren Bemühungen nach und gaben sich einer finsteren Trübsal hin. Es schien nur wenig Hoffnung für das Kind (wie viel weniger als für die Mutter!); aber nun trat aus dem Innern jener dunklen Nische, die schon als Teil des Gefängnisses der Alten Republik und als dem Gitterwerk der Marchesa gegenüberliegend erwähnt wurde, eine in einen Mantel gehüllte Gestalt in den Bereich des Lichts, hielt einen Moment lang am Rand des schwindligen Abstiegs inne und tauchte kopfüber in den Kanal. Als sie einen Augenblick später mit dem noch lebenden und atmenden Kind in ihrem Griff auf den Marmorplatten an der Seite der Marchesa stand, löste sich ihr von Wasser durchtränkter, schwerer Mantel und enthüllte, in Falten um ihre Füße fallend, den von Staunen ergriffenen Zuschauern die anmutige Person eines sehr jungen Mannes, von dessen Namens Klang der größere Teil Europas zu jener Zeit erschallte.

      Nicht ein Wort sprach der Erretter. Aber die Marchesa! Sie wird nun ihr Kind entgegennehmen – sie wird es an ihr Herz drücken – sie wird sich an seine kleine Gestalt klammern und es über und über mit ihren Liebkosungen bedecken. Ach! die Arme eines Anderen haben es von dem Fremden entgegengenommen, die Arme eines Anderen haben es weggenommen und es unbemerkt weit fort in den Palast getragen! Und die Marchesa! Ihre Lippe – ihre schöne Lippe zittert: Tränen sammeln sich in ihren Augen – in jenen Augen, die wie Plinius’ Akanthus »sanft und fast fließend« sind.19 Ja! Tränen sammeln sich in diesen Augen – und siehe! die ganze Frau erschaudert

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