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Jiftach und seine Tochter. Rüdiger Lux
Читать онлайн.Название Jiftach und seine Tochter
Год выпуска 0
isbn 9783374067572
Автор произведения Rüdiger Lux
Жанр Документальная литература
Серия Biblische Gestalten (BG)
Издательство Bookwire
»Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleich eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische.«27
Das kann der Widerspruch zwischen zwei Normen sein, zwischen denen sich der tragische Held entscheiden muss. Gehorcht er der einen, verstößt er gegen die andere; oder die Entscheidung zwischen zwei Personen, rettet er die eine, muss er die andere preisgeben; oder auch zwischen zwei Übeln, umgeht er das eine, gerät er unweigerlich in ein anderes. Dabei vollzieht sich das Geschehen einerseits im tragischen Wissen des Helden um das, was er tut. Er weiß um das Leiden, das sein Handeln zur Folge hat, aber er muss tun, was er gar nicht will. Andererseits kann dahinter aber auch ein tragisches Nichtwissen stehen. Er irrt sich oder macht einen Fehler, von dem er nicht weiß, dass dieser seinen Untergang besiegelt.28
Mitunter hat man die Ursachen für diese Peripetien im ambivalenten Charakter der tragischen Helden gesucht, ihrer Wankelmütigkeit und inneren Zerrissenheit. Doch sollte man sich mit einer kritischen, moralischabwertenden Einschätzung dieser in sich widersprüchlich scheinenden Charaktere zurückhalten. Denn bei den tragischen Helden handelt es sich weder um Männer, die über jeden Fehl und Tadel erhaben wären, noch um unverbesserliche Schufte. Vielmehr bleibt
»der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeits-strebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers […]«.29
Es geht demnach beim tragischen Helden um den »Mensch zwischen den Extremen«,30 der weder einen makellosen Charakter hat, noch einen, der von beispielloser Bosheit durchtrieben ist. Gerade darin kommt er den Zuschauern der Tragödien nahe, erregt ihren Jammer und ihren Schrecken, weil sie in ihm etwas von sich selbst und ihrer eigenen Fehlbarkeit und Endlichkeit wiederfinden können. Das, was ihm widerfährt, könnte auch mir selbst geschehen. Seine menschliche Größe erweist sich weniger in seiner charakterlichen Unfehlbarkeit als vielmehr in der »Tüchtigkeit« und »Tapferkeit«, mit der er seinem tragischen Geschick begegnet.31
Nicht ein ganz bestimmter menschlicher Charakter ist demnach die Quelle des Tragischen, sondern die abgründigen, widersprüchlichen, sich scheinbar jeder Logik und jedem Sinn entziehenden Lebensumstände selbst sind es, zwischen denen ein Mensch wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben werden kann.
»Es muß also ein Gegensatz sein, der in einem ›echten Naturgrund‹ wurzelt, wir würden sagen: im Seienden selbst; nicht in vorübergehenden Erscheinungen, sondern im Wesen des Menschen und der Wirklichkeit.
[. . .]
Entscheidend ist der Begriff des Konflikts, der in der Seele erlebt wird, aber nicht aus der Seele stammen darf, sondern heterogener Herkunft sein muß; der Mensch gerät in ihn hinein als etwas Bedrängendes, das er dann aus eigener Kraft tragen und lösen muß.«32
Das Tragische ist danach ein Drittes, ein Abgrund, ein Riss, der sich zwischen mir und meiner Lebenswelt, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen auftut, zwischen Ordnung und Chaos, Regel und Regellosigkeit, Sinn und Abersinn:
»Die Griechen hatten für das Ineinander von Sinn und Sinnlosigkeit eine feste Vorstellung in der Religion: das Daimonische, Daimon im Gegensatz zu Theós, dem bestimmten Gott, den man erkennen und in seinem Wirken klar umschreiben kann. Das Daimonische ist eine Begegnungsart mit dem Göttlichen in plötzlicher, unkontrollierbarer, ungesetzlicher, unfaßbarer Form.«33
Während Zeus, das Oberhaupt der griechischen Götterwelt, für die Aufrechterhaltung der Welt- und Rechtsordnung steht, macht der Mensch immer wieder schicksalhafte Erfahrungen, die diese Ordnungen infrage stellen und zerbrechen lassen, ohne dass sich das auf eine in voller Absicht begangene Missetat des Helden zurückführen ließe. Ja, immer wieder ist davon die Rede, dass er schuldlos schuldig wird.34 Das Phänomen des Tragischen erscheint danach immer dann am Horizont, wenn sich eine unauflösbare und als leidvoll erfahrene Widersprüchlichkeit oder Regelwidrigkeit in der Lebenswirklichkeit selbst auftut, die sich weder eindeutig dem Reich der Götter, noch dem Tun des Menschen zurechnen lässt. Peter Szondi hat das wie folgt beschrieben:
»… das Tragische ist ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische. Nur der Untergang ist tragisch, der aus der Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des Einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernen die Wunde sich nicht schließt. Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten – Sphäre.«35
Für Szondi tut sich daher der Abgrund des Tragischen auf, wenn sich der Mensch in einem Geschehen wiederfindet, in dem ihm seine Welt, Gott und schließlich auch er sich selbst fremd wird. Alles, was ihm bisher etwas bedeutete, droht im Nichts zu versinken. Jeder Lebenssinn wird im Keim erstickt, das Nichtige, Absurde feiert Triumphe. Es treibt den Leidenden in die absolute Isolation und innere Emigration.
Vor allem Franz Rosenzweig hat diesen Aspekt am Tragischen hervorgehoben: Der tragische Held, gefangen im undurchdringlichen Panzer seines Selbst, aus dem »keine Brücke nach irgend einem Außen« führt, »und sei dieses Außen auch ein anderer Wille«. Er, vergraben in sich, im Schweigen, nicht mehr dazu in der Lage, sich zu äußern, weder gegenüber Gott, noch gegenüber einem anderen Menschen. Bleibt dem tragischen Helden daher am Ende nichts anderes als die »Einsamkeit des Untergangs«? Das ist die Aura des Tragischen, die »jene eigentümliche Dunkelheit über Göttliches und Weltliches ausgießt, in der sich der tragische Held bewegt«.36
Kann es in der Begegnung mit dem Tragischen, und sei es auch nur in der Begegnung des Zuschauers mit ihm im Halbrund des Theaters, den das Geschehen auf der Bühne in Jammer stürzt und in Schrecken versetzt, kann es daraus überhaupt so etwas wie eine »Befreiung« oder davon eine »Reinigung« (katharsis) geben, die Aristoteles jedenfalls für das Tragödiengeschehen für wesentlich und notwendig hielt?37 Und wie könnte das jemals möglich sein, wenn das Tragische doch die offene, schwärende Wunde bleibt, die sich eben nicht schließen will? Wie, wenn der im Tragischen erfahrenen Gottes- und Weltverdunkelung kein Morgenlicht mehr leuchtet, weil »der Tod als Meißel«38 sein unwiderrufliches Werk vollbringt, weil untergeht, was eigentlich nicht untergehen darf? Ja, wie kann es eine Katharsis, eine Befreiung und Erlösung aus der vernichtenden Irrationalität des Tragischen geben, die jeder Rationalität und jedem Lebenssinn Hohn spricht? Diese Sinnwidrigkeit und unaufhebbare Widersprüchlichkeit hat Wolfgang Schadewaldt die »Erfahrung des Amphibolischen« genannt, in der
»wir das Geschehen nicht nach einem Sinn ablaufen sehen, aber es ist auch nicht Unsinn, sondern wir treffen auf den Schein des Unsinns, der in Wahrheit eben doch nicht unsinnig ist. Man kann auch sagen, daß der Sinn so verhüllt ist, daß man nur zu ihm durchbrechen und das Geschehen transparent machen kann durch das Leiden.« Скачать книгу