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werden“, sagte Punica Granata, die Oberhexe, gerade.

      Das Laub der Eiche war so dicht, dass man die Mitglieder des Hexenrats nicht sehen konnte. Aber man konnte jeden Einzelnen an der Stimme erkennen.

      Flora, Malte und Laurus spitzten die Ohren.

      Nun meldete sich Conius Maculatus, der Herausgeber vom Hexenklatschblatt, zu Wort. „Hat man eine Ahnung, wie diese Biester aus der ‚Schlucht der tiefen Seufzer‘ entkommen sind? Seit Jahrhunderten sind sie dort gefangen. Wie konnte das nur geschehen?“

      „Das ist doch alles halb so schlimm“, meinte Melissa, die Apothekerin. Flora stieß Malte in die Seite. Es war schließlich seine Mutter, die da gerade sprach. „Für uns besteht keine Gefahr. Die ‚Schlucht der tiefen Seufzer‘ befindet sich siebzehn Tagesreisen von hier.“

      „Halb so schlimm?“, echote eine wohlbekannte Stimme. Das war Anemona Floribunda, Floras Mutter. „Wir wissen ja nicht, wo die Grautriste hinwollen. Sie könnten in siebzehn Tagen bei uns sein. Und was dann?“

      Flora und Malte tauschten besorgte Blicke unter dem Tarnmantel. Das hörte sich ja ziemlich übel an, aber was waren überhaupt diese Grautriste?

      „Ich will nicht, dass sich irgendjemand beunruhigt.“ Die Oberhexe hatte wieder das Wort. „Unser Hexenvolk darf von alldem nichts erfahren, sonst bricht Panik aus. Deshalb wird alles, was heute Abend besprochen wird, streng geheim bleiben. Kann ich mich auf euch verlassen?“

      In diesem Augenblick stieß Kringel einen lang gezogenen Laut aus, der fast wie ein Jaulen klang. „Wer ist da?“, fragte die Oberhexe scharf. Flora zuckte zusammen.

      „Oh, das ist ja unser Kater Kringel“, hörte sie ihre Mutter ausrufen. „Wenn der da runterfällt, bricht er sich noch das Genick. Ich muss ihn herunterholen, wo ist mein Besen?“

      „Schnell weg hier“, zischte Flora. Dann rutschten sie und Malte und Laurus auf ihren Hosenböden auf der anderen Seite des Daches hinunter bis zur Regenrinne. Dort nahmen sie den Tarnmantel ab und winkten ihre Besen heran. Gleich darauf flitzten die drei Hexenkinder auch schon davon. Das war knapp gewesen!

      „Was sind Grautriste?“, fragte Laurus, als sie vor Floras Haus landeten. „Ich habe das Wort noch nie gehört“, sagte Flora. „Du, Malte?“

      Der zog ratlos die Schultern hoch. „Nein. Ich bin auch in keinem meiner Bücher je darauf gestoßen.“

      „Das alles müssen wir gleich morgen Hille erzählen“, sagte Flora. Ihre beste Freundin, die kleine Helfe Hille, hatte heute auf ihren Bruder aufpassen müssen und war darum zu Hause im Birkenwald geblieben. Flora sprang von ihrem Besen. „Aber jetzt muss ich ins Haus. Meine Omimi ist sicher schon stinksauer auf mich, weil ich nicht zum Abendessen gekommen bin.“

      Als Flora sich ins Haus schlich, schlug die Rathausuhr gerade zehn. Sie hatte sich um ganze drei Stunden verspätet! Aber Omimi war gar nicht sauer. Sie schlief bereits in ihrem Ohrensessel im Wohnzimmer mit einem aufgeschlagenen Krimi auf den Knien.

      Eigentlich war es ja ein Wunder, dass sie ohne das beruhigende Schnurren von Kringel hatte einschlafen können. Krimis machten Omimi immer ganz nervös. Sie las sie trotzdem, denn sie war der Meinung, dass sie den Verstand schärften.

      In diesem Augenblick hörte Flora ein scharrendes Geräusch und dann ein Knarzen. Erschrocken fuhr sie zusammen. Waren das etwa die schaurigen Grautriste? Ach, Humbug, versuchte sie sich zu beruhigen. Wer oder was auch immer die waren, sie waren weit vom Hexenrosenstädtchen entfernt.

      Das Knarzen war von der Haustür gekommen und im nächsten Moment trat Mama ins Wohnzimmer. Hinter ihr schlich sich Kringel herein. Anemona sah ihre Tochter überrascht an. „Flora Floribunda!“ Sie flüsterte, um Omimi nicht zu wecken. „Warum zum Hageldonnerwetter bist du noch nicht im Bett? Denkst du, dass du machen kannst, was du willst, wenn ich auf einer Sitzung des Hexenrats bin? Du hast morgen Schule und brauchst deinen Schlaf!“

      „Ich war im Garten und habe nach Kringel gesucht“, log Flora.

      „Den habe ich mit nach Hause gebracht“, sagte Mama. „Stell dir vor, er spazierte auf den Hausdächern rund um den Eichenplatz herum. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie er dort hinaufgekommen ist. Katzen können doch keine Hauswände hochklettern. Und von der Eiche aus kann er auch nicht auf die Hausdächer gelangt sein.“

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      Flora versuchte, ratlos dreinzusehen. Mama ins Gesicht zu lügen, fühlte sich gar nicht gut an.

      „Jetzt aber schnell ins Bett“, sagte Mama und streichelte Flora über das zerzauste Haar.

      „Gute Nacht“, murmelte Flora und drückte sich vorsichtig an Mama heran. Dann lief sie die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Bei der vorletzten Stufe stolperte sie. „Ja, ja, Lügen haben stolpernde Beine“, unkte die Spinne Linne aus dem Hut heraus.

      „Ich dachte immer, es hieße, Lügen haben kurze Beine“, sagte Flora ein bisschen genervt.

      „Mag sein. Aber wenn man sich nicht wohl in seiner Haut fühlt, stolpert man umso leichter.“ Linne hatte wieder eine ihrer weisen Stunden. „Na, wie gut, dass du nie über eines deiner acht Beine stolperst. Gute Nacht, Linne!“

      Am nächsten Morgen stürzte Flora vor Schulbeginn gleich auf Malte zu. „Hast du in deinen Büchern etwas über Grautriste gefunden?“, fragte sie aufgeregt.

      Malte schüttelte den Kopf. „Wann hätte ich denn Bücher wälzen sollen? Ich war gestern so müde, dass ich sofort ins Bett gegangen bin, und heute Morgen hatte ich auch keine Zeit.“

      „Ach, Malte“, Flora gab ihm einen sanften Knuff in die Seite. „Ich war schon so gespannt.“

      Laurus stieß zu ihnen. „Na, dann fragen wir heute eben unsere Lehrerin, die weiß doch bestimmt, was Grautriste sind.“

      „Laurus, jetzt denk doch mal mit“, sagte Malte. „Wenn wir so aus heiterem Himmel anfangen, von Grautristen zu reden, dann weiß Frau Boswelia gleich, dass Kringel gestern nicht als Einziger auf dem Dach gehockt hat.“

      Das sah Laurus ein. Sie durften diese komischen Grautriste auf keinen Fall erwähnen.

      In der ersten Stunde hatten sie Zeichnen. Flora liebte dieses Fach, und außerdem erzählte Frau Boswelia immer Geschichten, während die Schüler zeichneten. Heute erklärte sie, wie wichtig es sei, die Magie nur für gute Zwecke einzusetzen. „Wir Hexen vom Hexenrosental haben die Aufgabe, anderen zu helfen und Gutes zu tun. Damit das besser klappt, haben wir die Magie. Denkt beim Zaubern also immer daran, ob ihr damit auch etwas Gutes für andere bewirkt. Im Hexenrosental achtet unser Hexenrat darauf, dass keine böse, also schwarze Magie eingesetzt wird.“

      Flora lauschte der ruhigen Stimme und malte dabei den Blumengarten von Omimi. Ihre gesamte Schulbank war übersät mit Pastellkreiden. Auch die rot-violetten Blumen zeichnete Flora ein. Die waren Omimis neueste Züchtung. Eine Pflanze, die erspüren konnte, ob jemand in ihrer Nähe Gutes oder Böses vorhatte.

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      Bei guten Gedanken wuchsen der Sensitiv-Blume zusätzliche Blüten. Stand hingegen Unheil bevor, dann ließ diese Pflanze sofort die Blütenköpfe hängen. Omimi war sehr stolz auf ihre Züchtung. Seit ein paar Wochen stand die Pflanze auch in ihrem Blumenladen.

      Flora blickte zu ihren Freunden herüber. Während Frau Boswelia weitersprach, zeichnete Malte geometrische Figuren und Laurus malte irgendetwas, wofür er nur graue Kreiden benutzte.

      Draußen auf dem Schulhof, im hölzernen Glockenturm, ertönte schließlich die Schulglocke und läutete zur Pause. Flora sammelte ihre Kreiden ein und warf einen weiteren Blick hinüber zu Laurus.

      Er hatte ein Ungeheuer gezeichnet. Es hatte eine gebückte Haltung, einen kleinen Kopf mit Schlitzaugen und sehr breite Schultern. Seine Zähne reichten

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