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Marienbrücke. Rolf Schneider
Читать онлайн.Название Marienbrücke
Год выпуска 0
isbn 9788711449455
Автор произведения Rolf Schneider
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Schon in Berlin, also noch vor seinem Aufbruch nach Wien, hatte Kersting sich vorgenommen, eine wichtige und grundlegende, eine vielleicht Aufsehen machende Arbeit zu verfassen. Jetzt sah er dazu die Chance. Er wusste zugleich, dass es seine letzte war.
12
Im Frühherbst 1943 war es bei Henselers Motorenwerken am Stadtrand von Grotenweddingen zu Störungen gekommen. Manche Werkstücke erwiesen sich nach der Auslieferung als plötzlich unbrauchbar. Robert war laut Personalakte ein ehemals eingeschriebener Kommunist.
Eines sehr frühen Morgens, nämlich vier Stunden nach Mitternacht und zum Ende der Spätschicht, standen am Haupttor von Henselers Motorenwerken zwei Männer mit ölig glänzenden schwarzen Ledermänteln am Leibe und dunkelgrauen Filzhüten auf dem Kopf. In dem mehrere hundert Menschen starken Strome derer, die von der Spätschicht kamen und die jeder ihre Karten in die schnarrende Stechuhr steckten, wurde ihnen sofort und ohne alle Schwierigkeit Roberts Person auffällig. Der seinerseits, als sie auf ihn zutraten, kannte die Männer überhaupt nicht. Einer der beiden zeigte seine Ausweiskarte vor. Der andere umfasste Roberts rechten Oberarm und forderte zu unauffälligem Mitkommen auf. Am Straßenrand wartete ein schwarzer Personenkraftwagen der sächsischen Automobilmarke Wanderer. Die Scheinwerfer waren ihm wie vorgeschrieben mit einem Überzug aus schwarzem Kunstleder verdeckt, bloß ein schmaler Spalt gab etwas Licht frei, entsprechend den allgemeinen Verdunkelungsvorschriften für den Luftschutz.
Jacob, als er an diesem Morgen erwachte, fand Robert nicht vor. Das erschien ihm auffällig, beunruhigte ihn aber nicht, da sich so etwas auch schon früher ereignet hatte, in wenigen Einzelfällen, für die es hinterher aus Roberts Mund eine Erklärung gab, die mit der Arbeit befasst war, also mit Schwierigkeiten in den Produktionsanlagen von Henselers Motorenwerken.
Jacob ging zur Schule, wie er gewöhnlich tat. Er kehrte am Mittag zurück und fand nirgends ein Anzeichen, Robert habe sich zwischendurch in der Wohnung aufgehalten. Weiterhin fühlte Jacob keinerlei Unruhe. Er versah die aufgetragenen Schularbeiten in Mathematik, Latein und Geografie. Am Abend gab es immer noch kein Zeichen von Robert. Jetzt begann Jacob Unruhe zu fühlen. Er schlief trotzdem in der Nacht. Er wachte auf bei einem Fliegeralarm, kleidete sich an, trug einen Koffer in den Luftschutzraum und wartete, dass die Sirenen zur Entwarnung heulten. Der Fliegeralarm dauerte gerade bloß eine halbe Stunde.
Als er morgens nach dem Aufwachen immer noch nichts von Robert vorfand, überfiel ihn Unruhe. Er ging wieder zur Schule. Nach der ersten großen Pause ließ er die folgenden Unterrichtsstunden aus und ging stattdessen, hastig und atemlos, vom Fürst-Albrecht-Gymnasium fort über Sudergasse, Bahnhofstraße und Adolf-Hitler-Straße bis zu Henselers Motorenfabrik.
Das Eingangstor war ein zurückgenommenes hellgraues Stahlgitter. Die Aufschrift darüber bestand aus zusammengeschweißten Metallstangen. Die Spitze der herabgelassenen Holzschranke, lackiert in den Farben rot und weiß, zeigte genau auf die Tür eines aus Klinkern gemauerten Häuschens. Der Werkschutzmann trug eine schwarze Uniform. Er hatte bloß einen Arm, den linken, sein rechter Ärmel steckte lose in der Uniformjackentasche. Der Mann lehnte mit steifem Rücken an der Holzschranke und rauchte eine Zigarette. Er beugte sich lächelnd zu Jacob herab und vernahm Jacobs Frage. Er warf seine Zigarette auf den Boden, zertrat sie und begab sich in das Klinkerhaus. Jacob konnte durchs Fenster erkennen, wie der Werkschutzmann mit seiner verbliebenen linken Hand den Telefonhörer abhob und beiseite legte, eine Nummer wählte, den Hörer wieder aufnahm und jetzt ans Ohr hielt. Jacob sah den Mund des Werkschutzmannes reden. Zu verstehen war wegen der Glasscheibe kein Wort. Der Mann nickte zuerst, schüttelte dann zweimal den Kopf, dabei war es, als ob sein Gesicht gefriere. Er legte den Telefonhörer zurück in die Gabel. Jetzt öffnete er bloß das Fenster, beugte sich vor und sagte, Robert halte sich im Betrieb nicht auf, mehr könne hier nicht geäußert werden. Dem Mann war nicht anzumerken, ob er den verängstigten Jungen vor seinem Fenster bedauerte.
Jacob nickte. So viel begriff er: dass etwas Besonderes passiert war. Er konnte sich nicht vorstellen, was genau es war. Er ging langsam von dem Werktor wieder fort, in die Adolf-Hitler-Straße hinein, also direkt in Richtung auf das Fürst-Albrecht-Gymnasium, und erst als er das Sudertor schon sah, hinter den Bäumen der städtischen Badeanstalt, entschied er sich anders und ging lieber sofort in die Wohnung.
Er setzte sich in die Küche. Er drehte das Radio an, wo gerade ein bekanntes Lied gespielt wurde, Antje, hörst du nicht von ferne das Schifferklavier. Er schaltete das Radio wieder ab. Er wartete eine Stunde. Wenn draußen auf dem Hausflur hörbar eine Tür bewegt wurde, überfielen ihn Hoffnung und Erwartung glühheiß wie ein Fieberstoß. Er rannte zum Wohnungseingang und öffnete. Er wollte sehen, atemlos, wie Robert käme. Er wollte ihm entgegenrennen, er wollte sich an Roberts Leib klammern und alle Angst und Unruhe aus sich herausschreien. Er erblickte einmal eine dicke Frau, die japsend, das prall gepackte Einkaufsnetz in der Hand, die Treppe hinanstieg, wobei sie nach jedem zweiten Schritt innehielt. Er erblickte einmal die Briefträgerin, die gerade in ihrer Umhängetasche wühlte und etwas in den Postschlitz der Nachbarwohnung steckte. Die übrigen Male sah er niemanden. Da war es vielleicht überhaupt bloß eine Täuschung gewesen.
Zwischendurch zwang er sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Robert niemals wiederkäme, weil Robert vielleicht tot war. Er dachte Wörter wie Internat und Waisenhaus. Er merkte nicht, wie ihm dabei die Tränen übers Gesicht liefen. Unterdessen war Mittag geworden, er holte sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr zu seinem Schulfreund Ytsche Lehmann. Die Angst machte, zusammen mit der Anstrengung, dass ihm Kehle und Gaumen dröge wurden, auf der Zunge hatte er einen Geschmack, als lecke er Staub.
In der Langen Gasse stieg er von seinem Rad. Fräulein stand in der Küche, nickte ihm mürrisch zu und hantierte dann wieder an ihrem Küchenherd, auf dem mittäglicher Eintopf brodelte. Jacob fing plötzlich zu weinen an, Marianne Lehmann musste zahlreiche zerhackte Wörter aus ihm herausfragen und nahm ihn zum Trösten in die Arme, was er sich fast ohne Widerstreben gefallen ließ. Er fühlte sich bedrängt von sehr viel weichem Fleisch, das nach Schweiß und Lavendel roch.
Anschließend sorgte Marianne Lehmann dafür, dass er von den Birnen mit Räucherfleisch und Kartoffeln aß, die Fräulein in reichlicher Menge aufgetragen hatte. Nu iss dich man, sagte sie, und Jacob aß und wurde tatsächlich ruhiger. Danach stieg er wieder auf sein Fahrrad. Als er heimkam, traf er, womit er fast nicht mehr gerechnet hatte, Robert im Badezimmer. Robert rasierte sich einen zwei Tage alten Bart und hatte entzündete Augen. Er lachte etwas, als er Jacob sah. Er wischte sich Seifenschaum vom Gesicht und sagte, es sei alles in Ordnung.
13
Die meisten der in Ost-Berlin verhafteten jungen Leute seien wieder frei und ausgereist nach Westdeutschland. Ein paar von ihnen weigerten sich allerdings, den dazu erforderlichen Ausreiseantrag zu stellen. Mitteilungen solcher Art, als Schlagzeile von Zeitungen, die in Kiosken der Inneren Stadt auslagen, erreichten Kersting in einem überwiegend mit Empfindungen der Taubheit und der Euphorie besetzten Zustand.
Seine augenblickliche Erlebniswelt konnte er sich mit den Namen und Verläufen von Straßen im achten Wiener Gemeindebezirk umreißen, der den Namen Josefstadt trug und westlich der Ringstraße lag. Das Studentenhotel, in dem Kersting wohnte, stand an der Pfeilgasse. Sie durchquerte die Josefstadt in ihrer fast gesamten Ausdehnung. Als bauliche Sonderbarkeit gab es eine mehr als mannshohe Mauer, die zwischen Lerchen- und Tigergasse die Pfeilgasse gleichsam auseinanderschnitt und dadurch unpassierbar machte. Kersting musste an Berlin denken, wo es Straßen solcher Art seit dem Jahre 1961 in beträchtlicher Anzahl gab. In der Pfeilgasse war die Mauer eine weitgehend zweckfreie Einrichtung oder bloß gemacht, dass Kersting die Stadt seines Herkommens keinesfalls vergaß.
Er konnte eine Treppe benutzen, um aus seiner Wohnung ins Erdgeschoss zu gelangen, oder den Lift. Die Treppe begann unmittelbar neben seiner Wohnungstür. Die Stufen bestanden aus grauweißem Kunststein. Auf dem Wege zum Lift ging er an der stets offen stehenden Tür einer Teeküche vorbei. Hier begegnete er immer wieder dem jungen Mann mit den etwas ungelenken Bewegungen. Sie nickten einander zu. Beim dritten Treffen grüßte der andere Kersting hörbar mit dessen Namen. Kersting wollte stehen bleiben, sich umwenden und fragen, wieso sein Name bekannt sei.