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so dick bleiben, wenn ich auch nur eine Silbe weitererzähle.‘“ Das ,Wirtschaftswunder‘ war der Spitzname für eine Mitschülerin, ein bedauernswertes Geschöpf, das man früher als reizend und blühend, jetzt als fett wie eine Schnecke bezeichnete. Sie wog schätzungsweise fünfzehn Pfund mehr als Gisela oder Irmgard, und diese fünfzehn Pfund lasteten auf ihrer Seele wie der Amboß auf der Schulter des Diebes. Irmgard sah Gisela auch dementsprechend zögernd an. Einen solchen Schwur mußte man halten, und was nützte einem das Wissen um eine aufregende Neuigkeit, wenn man sie nicht weitererzählen konnte?

      „Vielleicht ist es gar nicht so etwas Tolles“, murrte sie also und versuchte, sich gleichgültig zu stellen. Daß es was war, sah man schon daran, daß Gisela wie ein Derwisch hopste und tanzte. Sie konnte nicht eine Sekunde Stillstehen. Irmgard seufzte.

      „Nein, gar nichts! Gar nichts von Bedeutung!“ jubelte Gisela unterdrückt. „Es ist so was, was noch nie – nie – so was war. überhaupt noch nie da.“

      „Ein Brief?“ fragte Irmgard. Man konnte sich vielleicht langsam an die Sache herantasten und den Schwur damit umgehen.

      „Ja!“ Gisela funkelte.

      „Von Benno?“

      Sie gingen hier ins Gymnasium, Jungen und Mädchen, und wer mit wem „ging“, das wußten die Banknachbarn und Freundinnen meist, mitunter sogar eher als die Betreffenden selbst.

      „Benno.“

      Gisela sprach diesen, ihr sonst nicht direkt unlieben Namen so mitleidig, so überaus geringschätzig und herablassend aus, als wäre Benno ein Neandertaler und schon seit einigen tausend Jahren außer Konkurrenz. Dabei – das wußte nun wieder Irmgard – war es noch nicht allzu lange hergewesen, da wurde Benno in Giselas Seelenheft gar nicht allzu klein geschrieben. Ach ja, Menschen ändern sich, und Frauen –

      Irmgard verstand.

      „Aber jemand aus der Klasse?“

      „Ja und nein.“ Gisela hüpfte. Sie hatten sich in eine Ecke des Schulhofes verzogen, wo es einigermaßen still war. Nur ab und zu schusselten ein paar von den Kleinen heran, die Fangen spielten, oder andere suchten Kastanien, die hier, braunglänzend oder scheckig, aus ihrer stachligen Schale sprangen.

      „Was heißt das, ja und nein“, sagte Irmgard ärgerlich, „gleich wird es klingeln, und wir müssen rein. Nun sag doch schon – –“

      „Wer ist denn in der Klasse und doch nicht immer?“ fragte Gisela, brennend vor Mitteilungsdrang, „heute jedenfalls eine Stunde, morgen zwei –“

      Sie sah Irmgard beschwörend an. Irmgard schaltete diesmal blitzschnell. Heute eine Stunde, morgen zwei …

      „Der Jo!“ stieß sie hervor. „Der Jo! Sag, hat er wirklich – aber du lügst ja.“ Ungläubig, ja, verächtlich wandte sie sich ab. Gisela war mit einem Sprung neben ihr.

      „Wenn du es nicht glauben willst – –“, sie vergaß, was sie vorher verlangt hatte – „hier –“ und zerrte aus der engen Tasche ihrer Hose einen Brief, versuchte, ihn mit fahrigen Fingern auseinanderzufalten, was nicht gleich gelang – da schellte es. Pause vorbei.

      „So ein Schiet“, sagte Irmgard enttäuscht. Sie war so nahe dran gewesen, das Geheimnis zu erfahren. Gisela entfaltete den Zettel wenigstens soweit, daß man die Unterschrift lesen konnte.

      „Ihr Jo. Na, glaubst du es jetzt? Nicht: Ihr Dr. J. Reinhardt, sondern: Ihr Jo. Bitte, da steht es, siehst du’s? Na? Was sagst du nun?

      „Toll!“ mußte Irmgard zugeben, „unglaublich. Immerhin weiß ich ja nicht, was er schreibt. Jo ist sein Spitzname in allen Klassen, das weiß jeder, jeder Lehrer kennt seinen Spitznamen. Also so toll ist das auch wieder nicht. Ein vernünftiger Lehrer unterschreibt eben nicht mit allen Ehren- und anderen Doktoren, die er gemacht hat. Das fände ich sehr affig. Er weiß doch ganz genau, daß er überall, wahrscheinlich auch im Kollegium, Jo genanntwird.“

      „Na, wenn schon. Trotzdem –“, Gisela ging auf den Leim und war von dieser Rede enttäuscht. „Immerhin unterschreibt er an mich ,Ihr Jo‘. Bitte. Hast du etwa schon mal einen Brief von einem Lehrer –“, sie waren jetzt im Gedränge der ins Haus strömenden Schülerinnen und Schüler und konnten nicht weiterreden, Überhaupt war die Schule recht störend. Immer, wenn man etwas Wichtiges vorhatte, kam sie mit ihren Forderungen dazwischen. Gisela drängte sich ärgerlich durch das Gewühle und lief ins Klassenzimmer hinauf. Irmgard kam viel später. Gleich darauf begann die englische Stunde, und es war keine Rede mehr davon, das angefangene Gespräch fortsetzen zu können.

      Dr. Joachim Reinhardt gab Deutsch in Giselas Klasse. Noch nicht lange im Lehramt und fanatisch interessiert an Stoff und Schülern, tat er des Guten oft zuviel. Er versuchte, Debatten, die von den Schülern vor allem mit der Absicht, die Zeit hinzubringen, entfesselt wurden, ernsthaft und ohne auszuweichen zu führen – und merkte nicht, daß sich die Schüler ins Fäustchen lachten: „Wieder keine Hausaufgaben abgehört.“ Er stand manchmal noch die ganze Pause durch mit Jungen und Mädchen zusammen und sprach und ließ sie sprechen, bis der nächste Lehrer hereinkam. Er knüpfte am anderen Tag an derselben Stelle wieder an und bemühte sich heiß, jung und eifrig. Manche wurden von seiner Art angesteckt und mitgerissen. Manche aber – bedauerlicherweise muß gesagt werden, daß Gisela zu ihnen gehörte – machten sich hinter seinem Rücken lustig, ihn „wieder soweit“ zu haben und freuten sich diebisch, um einen Aufsatz herumzukommen. O Schlange Weib, in welch zartem Kindesalter regierst du schon und verwirrst Köpfe und Herzen der bedauernswerten Adämer!

      Immerhin hatte diese heutige Englisch-Stunde den Vorteil, daß Gisela überlegen konnte und auch überlegte, und dabei wurde ihr bewußt, daß sie Irmgard nun doch eingeweiht hatte in ihr Geheimnis, in diese Neuigkeit, die alles bisher Dagewesene weit überstrahlte, ohne daß diese diesen schrecklichen Eid hatte ablegen müssen. Verrat! Wie war das wieder gutzumachen? Klar, kein Erfolg bei Männern macht Spaß, wenn niemand davon weiß, ebenso klar aber auch, daß hier äußerste Vorsicht geboten war. Wenn Irmgard quatschte – – –

      Freilich, die Hauptsache wußte sie noch nicht. Ein Glück! Welche Sensation, daß ein Lehrer eine Schülerin zum Stelldichein bat! Er hatte zwar nur geschrieben, es wäre ihm lieb, wenn sie einmal in Ruhe über den „Prinzen von Homburg“ sprechen könnten, den Gisela in der letzten Deutschstunde so heruntergemacht hatte, nichts läge ihm, Jo, so am Herzen, wie Gisela für Kleist zu erwärmen (mußte es Kleist sein?), und das klang natürlich unverfänglich und mochte es auch sein.

      Immerhin, der Brief ging weiter, sie könnten sich doch einmal mit den Rädern treffen. Er gab ein ländliches Lokal außerhalb Celles an, von wo aus man schöne Touren machen konnte. Vielleicht brachte Gisela auch noch eine Freundin mit, die am gleichen Thema interessiert war?

      „Ich werd’ mich kratzen“, sagte Gisela vor sich hin und lachte in sich hinein. „Am gleichen Thema interessiert schon, aber mitbringen? Kommt nicht in Frage.“ Dieser letzte Satz machte natürlich unmöglich, den Brief jemanden ganz lesen zu lassen, Irmgard schon gar nicht, die sich sofort für Kleist erwärmt hätte. Nach der Stunde rückte sie prompt zu Gisela heran.

      „Nun zeig schon!“

      „Nichts für kleine Kinder, Finger weg!“ Irmgard versuchte es noch ein Weilchen mit Schmeicheln und Bitten, mit Sich-gleichgültig-Stellen und schließlich mit Gemaule. „Immer bist du so gemein, und ich erzähl’ dir alles.“

      Gisela indes wußte, daß Irmgard nie im Ernst maulte. So machte sie sich nicht die geringsten Sorgen um ihre Freundschaft.

      Nach der Schule – der Omnibus ging erst später – schlenderte Gisela durch die Innenstadt. Es war ein schöner, hoher, heller Herbsttag, der den alten Straßen gut stand. Als Gisela merkte, daß ein Herr in grauem, sportlichem Übergangsmantel, ohne Hut, den Fotoapparat am Lederriemen um den Hals gehängt, ihr nachsah, lehnte sie sich malerisch ans Brückengeländer und sah verträumt vor sich hin. Richtig, es machte „Knips“ und noch mal „Knips“, und nun konnte sie die Haltung ändern und sich halb umdrehen. Nur im Profil wollte sie ja auch nicht für die Ewigkeit festgehalten werden

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