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Sein Reiter hat vergessen, abzudrücken, und klappt nach hinten, bleibt allerdings im Sattel. Rose bedauert einen Augenblick lang die Bahnpferde. Jeden Tag, jede Stunde müssen sie klaglos einen andern Nichtskönner im Sattel dulden. Da sind die Ponys zu Hause wahrhaftig besser dran; auf die kommt kein Fremder, außer –

      „Na, haben wir’s uns anders überlegt?“

      Ach so, sie ist an der Reihe. Verwirrt gibt sie Galopphilfe, und Sultan springt gehorsam an. Rose kann nicht mehr kalkulieren, ob sie auskommt; das tut sie sonst stets, denkt für das Pferd. Jetzt bleibt ihr nichts übrig als mitzugehen und zu hoffen, daß Sultan sich nicht als ein Satan entpuppt und im letzten Augenblick verweigert, so daß sie allein über das Rick geht, zum Jubel der anderen.

      Nein, Sultan springt. Er springt in dem Augenblick, in dem sie abdrückt, und zum erstenmal fühlt sie, was es bedeutet, gemeinsam zu springen: Pferd und Reiter – eine Bewegung, ein Wille, ein einziger, gemeinsamer Schwung. Unmöglich, dem Pferd jetzt ins Kreuz zu fallen oder auf dem Widerrist zu landen. Weich und eng gleiten ihre Oberschenkel am Sattelleder entlang, als Sultan aufsetzt.

      „Na also, das Frauenzimmer kann ja!“

      Rose lacht verlegen, während sie durchpariert. Der Reitlehrer klopft behaglich mit der Gerte an den Stiefelschaft.

      „Wohl als Kind auf Ponys geritten? Merkt man sofort am Sitz. So was verliert sich nicht.“

      „Ist das nun ein Lob oder ein Tadel?“ fragt Rose atemlos, während sie ihrem Pferd den Hals tätschelt. „Jaja, brav bist du gewesen!“

      Der Reiter, der vorhin, als sie zum Sprung ansetzte, neben ihr hielt und sich über sie belustigte, lacht sie jetzt offen an. Er erinnert sie an jemanden; nur kommt sie im Augenblick nicht drauf, an wen.

      „Nehmen Sie es als Lob. So hab ich es im Examen gemacht, wenn die Herrn Halbgötter delphische Orakel von sich gaben.“

      „Ach. – Eigentlich nachahmenswert.“ Sie sieht einen Augenblick zu ihm hin und weiß plötzlich, wer er ist: der markante Hinterkopf aus der langweiligen Vorlesung in Anatomie. Hoffentlich erkennt er sie nicht oder erinnert sich wenigstens nicht an ihren verlorenen Gürtel. Was er sagt, findet sie nicht dumm. Sie gehört zu der Sorte Menschen, die immer glauben, alle andern könnten alles besser.

      Sie sagt so etwas, als sie absattelt, sagt es ein wenig schüchtern und mit schlechtem Gewissen. Er lacht.

      „Ging mir früher ähnlich. Später gibt sich das. Zum mindesten lernt man so zu tun als ob.“

      Sie streicheln und loben ihre Pferde, verfüttern den letzten Stückenzucker und bummeln dann nebeneinander den Stallgang entlang.

      „Stimmt das? Mit dem Ponyreiten? Haben Sie als Kind ein Pony gehabt?“ fragt er. Seine Stimme hat einen leichten Hamburger Tonfall. Rose hat das schon in der letzten Viertelstunde gemerkt. Sie hat eine Tante, die so spricht und die sie sehr liebt. Deshalb vielleicht ihre kritiklose Schwäche dieser Sprechart gegenüber. Auf seine Frage hin nickt sie.

      „Nicht »gehabt«. Wir haben sie noch. Nicht nur eins, sondern mehrere. Ja, das klingt so nach unermeßlichem Reichtum und Little Lord Fauntleroy, es ist aber in Wirklichkeit nichts als eine Liebhaberei meines Vaters. Wir wohnen sowieso auf dem Lande, und er meint, nichts erziehe den Menschen so wie der Umgang mit Pferden und das Reiten. Und da er selbst keine Zeit hat, uns zurechtzuhobeln, hat er die Ponys angeschafft. Wir haben natürlich nichts dagegen.“

      „Toll, dieser Gedanke. Und was –?“ Er zögert.

      „Praktischer Arzt. In einem kleinen Kaff, nicht mal Kleinstadt, Dorf. Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie war auch Ärztin.“

      So, nun weiß er wenigstens das. Von den Geschwistern – Rose ist das zweitälteste Kind von sieben, die größte Tochter – sagt sie vorsichtshalber nichts. Sie hat sich das abgewönht. Die ewigen Fragen und Sticheleien, die darauf folgen, kann sie schon auswendig: Na, wer kommandiert denn da? Oder: Ach, wie reizend, sind auch Zwillinge dabei? Oder: Und Sie sind die Älteste? Na, ich danke schön!

      Sie spricht schnell weiter.

      „Ja, ich habe auf Ponys angefangen. Ganz früh. Manches lernt man dann natürlich falsch und legt es nie wieder ab.“

      „Aber man lernt sitzen. Aussitzen – ungefähr in jeder Lebenslage“, sagt ihr Begleiter. Er hat genau gehört, daß sie sozusagen Entschuldigungen oder doch Erklärungen sucht. „Und daß Sie fest sitzen, hab ich gemerkt. – Hören Sie, machen Sie doch den Pfingstritt mit! Über die Alb – bei diesem Götterwetter! In einer Praxis versauern können wir noch lange.“

      Rose sieht auf: „Woher wissen Sie denn –?“

      „Daß Sie auch vom Fach sind? Na, schwer zu raten ist das nicht. Vater Arzt, Mutter Arzt – übrigens, Stetten ist mein Name. Richard Stetten. Leider noch nicht Dr. Stetten.“

      „Aber Staatsexamen?“ Sie fragt, weil sie merkt, wie gern er Ja sagen will. Er strahlt.

      „Soeben. Alle Hindernisse genommen. Ausgesessen. So werden Sie es auch machen. Hauptsache.“

      „Das sagen Sie so. Ich habe ja noch nicht mal das Physikum. Blutiger Anfänger.“

      „Machen Sie sich nichts draus. Mir hat mal jemand gesagt,–ein Franzose übrigens, – wir sprachen von der Liebe –: Am schönsten ist es, wenn man noch die Treppe hinaufgeht. So ist es auch mit dem Studium. Nur weiß man das anfangs nicht. Ich möchte jetzt, heute, da man weiß, wo man die Hebel ansetzen muß, jetzt möchte ich nochmal von vorn anfangen zu studieren.“

      Seine Augen blitzen. Rose fühlt es warm durch ihr Herz gehen. Sie ist entbrannt für die Medizin und wittert den Gleichgesinnten. Und wie er das sagt, das ist so kameradschaftlich; es betont gar nicht, wie sehr er ihr überlegen ist, nur, daß er genau so denkt und fühlt.

      „Nun, und wie ist das mit dem Pfingstritt? Drei Tage, stellen Sie sich das doch mal vor. Drei Tage zu Pferde!“

      „Da muß ich eben nochmal Blut spenden“, sagt Rose. Sie treten gerade aus dem Reithaus. Die Luft ist frisch und wie voller Verheißungen, der Himmel blank und morgendlich hell. Herrgott, ist die Welt schön!

      „Sehr gut! Ich übrigens auch. Meine Finanzen schleifen am Boden. Aber deshalb trinken wir jetzt doch einen Kaffee, drüben, am Neckar, wo man jetzt schon draußen sitzen kann. Was immer an Vorlesungen auf Sie wartet, es läuft Ihnen nicht davon. Wohl aber könnte ich das tun. Und was dann?“

      Rose guckte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Junge Männer, die sehr von sich überzeugt sind, mag sie nicht. Aber er lacht so vergnügt, daß sie, ganz gegen ihre sonstige Art, zu dem Ja, das den Pfingstritt betrifft, auch noch das hinzufügt, was ein ganz und gar unprogrammäßiges und eigentlich sträflich schlemmerhaftes Frühstück nach sich zieht. Denn für gewöhnlich besteht ihr Frühstück und das unzähliger männlicher wie weiblicher Kollegen aus nichts als aus „strammer Haltung“; denn was Wirtinnen von Studentenbuden als Bohnenkaffee präsentieren – und anschreiben! –, das hat häufig genug mit Kaffee so viel zu tun wie ein kleiner Schnupfen mit einer Bronchopneumonie.

      Sie sagt das, als sie den ersten Schluck getrunken hat, hier im Vorgarten des Neckar-Cafés, mit dem Blick über den Fluß hin auf die Platanenallee, am hellen Morgen. Und neben der Tasse steht noch ein Teller mit Butterbrötchen, knisternd frisch und appetitlich.

      „Frühstücken Sie immer so?“ fragt Rose. Er sieht sie an. Sein Blick ist auf einmal ernst, obwohl es um seine Mundwinkel zuckt.

      „Vielleicht glauben Sie es nicht. Vielleicht aber doch. Es ist das erstemal seit zwölf Semestern.“

      *

      So ist das gekommen. Mitunter sind es Kleinigkeiten, die eine Reihe von Handlungen auslösen, aus einem Schneeball eine Lawine machen. Das klingt ein bißchen pathetisch, denkt Rose, aber der Vergleich stimmt. Die Tatsache, daß sie doch noch gesprungen ist, obwohl eigentlich nur die Herren aufgefordert waren, hat dies alles nach sich gezogen. Sie sprechen davon, als sie am zweiten Abend ihres Rittes nach Versorgen der Pferde durch den kleinen Ort schlendern.

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