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spürt man, besonders in Bonn natürlich: hier sind Spitzen-Splitter, und das Volk dazu fehlt. Im heutigen Berlin aber ist es umgekehrt: das Volk ist da, aber die Spitze wanderte ab und zerstreute sich in alle Winde. Deutschland ohne geistiges Zentrum.

      Auf dem Wege hinaus in meinen Vorort komme ich durch eine Straße, die sieht genau so aus wie jede Hauptstraße einer ostelbischen Kleinstadt. Schmalbrüstige Kleinbürgerhäuser der Jahrhundertwende mit echt imitierten Barock- oder Renaissancefenstern, aus denen zum Feierabend die Gattinnen der Handwerksmeister und Beamten in ihren Kittelschürzen herauslehnen. Unten Geschäfte, zum Teil mit modernen Schaufenstern, etwas hervorstechend aus den Fassaden die Front des »Deutschen Hauses« mit dem Saal, der später in ein notdürftiges Kino umgebaut wurde. Wo sich die Straße zum Platz weitet, die kleine Dorfkirche, noch aus der frühesten Zeit der Ortschaft, inmitten die alte Linde, die eine erstaunliche Wandlung um sich herum schon hundert Jahre gelassen mit ansieht. Aus märkischen Dörfern – sie heißen heute noch Zehlendorf, Schmargendorf, Wilmersdorf – wurden Kleinstädte, aus den Kleinstädten Vororte, aus den Vororten Stadtteile der Reichshauptstadt, die heute den Mittelpunkt bilden zwischen Außenbezirken und Zentrum Berlins.

      Das ist der Alexanderplatz und die Friedrichstraße, gewiß, der Kurfürstendamm, ja – und Berlin, das ist auch das stille, gepflegte Dahlem und das industriell-moderne Siemensstadt. Berlin im Durchschnitt aber setzt sich zusammen aus vielen, vielen dieser ostelbisch kleinbürgerlichen Haupt- und Nebenstraßen. Manchmal gibt es noch Linde und Dorfkirche, das eine oder andere der Häuser ist auf vier und fünf Stockwerke gewachsen. Hinterhöfe mit sogenannten Gartenhäusern kamen dazu, das »Deutsche Haus« wurde von Eckkneipen abgelöst, der Tanzsaal verwandelte sich in einen selbständigen Filmpalast, und Geschäftsstraßen schieden sich deutlicher von Wohnstraßen. Erstaunlich die Schnelligkeit, mit der diese Veränderungen vor sich gingen. Jeder ältere Berliner erinnert sich noch daran, daß der Kurfürstendamm um 1900 zwanzig Häuser zählte, an denen eine Dampfbahn vorbeifauchte. Das halbe zwanzigste Jahrhundert hat mehr verändert als zwei, drei frühere Jahrhunderte zusammengenommen. Kein Wunder, daß wir uns oft die Augen reiben, weil es wohl nie so schwierig war wie heute, ein Zeitgenosse zu sein und zu bleiben.

      Groß, sehr ausgedehnt ist diese Stadt noch immer. Wer sie im Dunkeln anfliegt, staunt, wenn er ihre Lichter sieht, nachdem er vor anderthalb Stunden die Lichter Frankfurts sah. Die Finsternis der Zone mit ihren Stromsperren reicht bis an den Stadtgürtel. Unmittelbar, plötzlich sind dann nicht nur Bahnhöfe und Plätze beleuchtet, sondern Häuser, Wohnungen. Bunte Reklamen tauchen auf. Und dieser See von Lichtern ist aus 1 000 Meter Höhe nicht überschaubar, erstreckt sich, hinter der Finsternis, bis an den Horizont, verliert sich im Nachtdunst; geht nach rechts und links wieder über in Finsternis.

      Auf Sand und Sumpf gesetzt, zwischen Seen und Wälder, ins flache märkische Land hinein, von der Nacht fast verschluckt jetzt – die zweitgrößte Stadt Europas. Berlin bei Nacht – dort unten. Wie sie den Abend herumbringt, die große Stadt; wie in hunderttausend Wohnungen das Radio geht, die Zeitung aus müden Händen sinkt; junge, arme, alte, reiche, glückliche, bedrückte Menschen einschlafen, ausgehen, heimkehren, grübeln, lieben, sich sorgen, hoffen, verzweifeln – leben.

      EIN DEUTSCHER PROFESSOR

      Das Haus ›Am Hirschsprung‹ in Dahlem unterscheidet sich kaum von den anderen älteren, kleinen Villen dieses Teils von Berlin. Aber schon die Treppen, hinauf zum Studierzimmer des greisen Historikers, sind begleitet von Bücherregalen. In seinem kleinen Studio mit großem Arbeitstisch und Sofa sind alle Wände mit Büchern verstellt, und unter einer schweren Gesamtausgabe Jacob Burckhardts hat sich im Laufe der Jahrzehnte das schwere Eichenbrett durchgebogen. Friedrich Meinecke stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert; er erlebte schon den Krieg 70/71 bewußt mit; 1914 war er bereits über die Fünfzig hinaus; als Hitler die Macht ergriff, stand Meinecke im biblischen Alter. Zwanzig weitere Jahre Geschichte, deutsche Leidensgeschichte, durfte oder mußte der Historiker noch mitansehen, ehe er nun – vor wenigen Tagen – endgültig aus ihrem Bereich entlassen wurde.

      Ich saß nach dem Kriege noch einige Male in seinem Oberseminar. Er hörte kaum noch und sah sehr schlecht. Aber das wenige, was er seinen Studenten noch mitgeben konnte, das blieb haften. Meinecke war eine ehrwürdige Erscheinung nicht nur wegen seines hohen Alters, wegen seines Rufes als Wissenschaftler – er war es besonders und in einer Weise, die uns heute kaum noch begegnet – als Mensch. Güte und Weisheit gingen aus von der kleinen, gebeugten Gestalt, so unmittelbar, daß niemand sich ihm anders nahen konnte als aufblickend.

      Er trug immer eine feine, altmodische, graue Tuchweste und war trotz seiner Gebrechen von einer Höflichkeit, die es nicht mehr gibt. Auch dem jüngsten Gast gegenüber deutete er den Versuch, sich zu erheben, an und erkundigte sich teilnehmend nach Woher und Wohin des Besuchers, ehe er von seiner Wissenschaft oder von sich zu sprechen bereit war.

      In dem großen Biedermeierzimmer im Erdgeschoß seines Hauses, an einem hellen, runden Tisch, mit Ausblick in den kleinen Garten und unter alten Bildern an den Wänden ringsum, vermittelte er, treulich geleitet von Frau und Tochter, noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt jungen deutschen Studenten einen Eindruck davon, was einmal ein deutscher Professor war, jener deutsche Professor des neunzehnten Jahrhunderts, dem die Welt epochemachende Erkenntnisse der Geistes- wie der Naturwissenschaften verdankt. Ein bescheidener, ja karger Zuschnitt des materiellen Lebens kennzeichnet diese Gestalt, eine betrachtende eher als eine handelnde Haltung, und Demut vor den großen Rätseln von Natur und Geist.

      DIE GUTE ALTE ZEIT

      In den älteren Straßen des Stadtteils Grunewald wurde mir gestern klar, daß unsere Zeit so schlecht nicht ist wie ihr Ruf. Es wurde mir klar vor diesen Gründerzeit-Villen. Jedes Fenster ist eine kleine Bühne mit eingerolltem Gipsvorhang über und neben dem Fensterrahmen; die Eingangstür ist die Stirnseite eines Tempels; das verwinkelte Dach sieht aus wie ein Miniatur-Nürnberg, und obenauf ist ein Luginsland, ein Türmchen mit Wetterfahne. Das Ganze ist schmalbrüstig und immer zu hoch; man fragt sich vergeblich, wo in diesen Baukästen einer kranken Phantasie eigentlich jemand wohnen soll und welche Art Lebewesen es wohl sein könnten, die in diesen steinernen Disharmonien atmen mögen. Nun, solche Häuser entstanden, als man die »Molkerei-Gotik«, das »Büro-Barock« und die »Bahnhofs-Renaissance« erfand. Ein eiserner Träger durfte nicht aussehen wie ein eiserner Träger, er wurde der korinthischen Säule nachgebildet.

      Spaziert man von Grunewald nach Dahlem, kommt man durch Straßen mit modernen Häusern. Die sind niedrig, einfach, liegen möglichst zurückgezogen von der Straße, haben große Fenster; wenn sie schmuck sind, sind sie es durch die Ausgewogenheit der Maße, durch werkgerechte Gediegenheit, indem der Baumeister den natürlichen Ausdruck des Materials zur Geltung kommen läßt. Ein tragender Balken wird nicht mehr unter Stuck versteckt; sichtbar und schön gebeizt beweist er ein Grundgesetz der Ästhetik: daß das Notwendige immer zugleich auch schön ist. Diese Häuser sind Wohnungen für Menschen, sonst nichts; ein vernünftig zugeschnittenes WohnKleid, einfach und praktisch gearbeitet. Türen sind nicht höher, als die menschliche Gestalt sie fordert; auf Dekorationen, leeren Effekt wird verzichtet.

      War »die gute alte Zeit« eine gute Zeit? Viele möchten in ihr gelebt haben. Ich weiß nicht recht. Eins allerdings weiß ich seit gestern sicher: in ihr gewohnt haben möchte ich nicht.

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