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Sonst hätte sie mich enterbt!“

      „Ja – ja!“ sagte der Freund finster. „Du bist eine zerrissene Natur!“

      „Ich bin’s! Sieh – das ‚Wilde Dirndl‘ da drüben – das ist das Symbol meines Lebens. Theoretisch ist es mein! Denn es gehört unserer Sektion, und die Sektion bin ich! Praktisch aber kann ich es nicht bezwingen, sondern muss unten im Tal stehen und zuschauen, wie andere, die keinen Schwindel und keine Begeisterung kennen, fühllos das vollbringen, was ich mit all meinem heissen Herzen nicht vermag! Ist das nicht furchtbar? Und das ist mein Leben!“

      „Ich weiss nur ein Mittel dagegen!“ murmelte der Freund und sah düster vor sich nieder.

      „Und das wäre?“

      „Heiraten!“

      „Heiraten!“ wiederholte Martin Siebenpfeiffer melancholisch. „Du meinst: das zieht den Menschen aus den Wolken hernieder und stellt ihn auf seine zwei Beine, zwischen seine vier Wände, dass er weiss, wozu er da ist, und sich vom Leben keine Rätsel mehr aufgeben lässt? Oh ja – bester Freund – harmonisch im Sinn des Wortes würde meine Ehe mit Lori Vogel – ach, rede doch nicht! Natürlich denkst du an Lori Vogel! Ihr alle denkt ja nur an sie und mich! – Also harmonisch würde die Ehe schon sein. Ich würde noch dicker werden, als ich schon bin, ich würde keine Verse mehr machen, mich nicht mehr an Schneevogts furchtbaren Reiseberichten berauschen, den Vorsitz in meiner Sektion niederlegen und den eines Kegelklubs übernehmen, und nicht mehr an das ‚Wilde Dirndl‘ und seine Bezwingung denken – und, siehst du das – da – das ‚Wilde Dirndl‘ – das gerade ist’s! Das Weib! In mir brennt die Sehnsucht nach dem Weibe – der wilden nachtlockigen Göttin, wie sie die Dichter schildern, die nur dem auserwählten Helden sich ergibt. Solch ein Held nur einmal zu sein – nur vierundzwanzig Stunden lang in vollsten Zügen leben und geniessen – Sieger zu sein über das Weib ...!“

      „Lori Vogel nimmt dich gleich!“

      „Ach – Lori Vogel! Sie ist ein munteres, liebes Wesen für den Wochentag, für die gute Stube. Das Glück bei Milchkaffee und Semmeln und der langen Pfeife. Ich aber denke an das Weib – ich sehe so etwas Lächelndes, Geheimnisvolles vor mir, etwas Nixenhaftes, Dämonisches!“ – wieder starrte er traumverloren zu dem „Wilden Dirndl“ hinüber – „eine kalte Schlange mit Feueraugen, halb Engel, halb Teufel, ein wildes Rätsel mit schwarzflatterndem Haar ...“

      „Das ist Unsinn!“ sagte der Amtsbruder.

      Martin Siebenpfeiffer seufzte. „Gewiss ist’s Unsinn. Das weiss ich selbst. Wir sind ja so klug. Es gibt ja solche Fabelwesen nicht! Aber warum haben wir denn dann die Sehnsucht danach? Eine Art Erinnerung beinahe, als seien wir ihnen schon im Leben begegnet – Gott weiss wo – oder in einem andern Leben oder auf einem andern Planeten ...?“

      „Das ist alles Unsinn!“ wiederholte der Freund.

      „Doch! Ich hab’ schon mehrmals gelebt, in verschiedenen Gestalten – bis jetzt endlich diese zerrissene Natur aus mir geworden ist – anders wäre der Zwiespalt ja gar nicht zu erklären. Diese Feuerseele in der Hülle eines kurzatmigen, fetten, kleinen Oberlehrers, der keinen Berggipfel zu erklimmen, kein Weib zu berücken, nichts Grosses zu tun und zu leiden vermag. Und ich werde immer dicker bei allem Kummer und Zorn! Die innerliche Glut setzt bei mir aussen Speck an, statt ihn zu verzehren, und je korpulenter ich werde, desto mehr entferne ich mich von meinen Idealen, meinem Stanley, Cäsar Borgia oder Napoleon oder was gerade meine Brüder im Geiste sind. Denn grosse Männer sind zumeist klein und mager. Ihre unruhige Seele braucht kein so weich ausgepolstertes Nest. Aber ich ...? Dickbäuchige Menschen heiraten, kriegen Kinder und zum siebzigsten Geburtstag ein Ständchen vom Kegelklub und enden als Ehrenmitglied vieler Vereine. Und ich habe von Taifunen und Erdbeben, von rasenden Liebesstürmen und blutigen Duellen und von der tollen Jagd nach dem Glücke geträumt ...“

      Der kleine Mann stand bekümmert auf und holte aus der Ecke den grünen Rucksack, das Lodenhütchen und den Bergstock hervor.

      „Wo willst du denn um Gottes willen hin?“ fragte der Freund.

      „Auf die Törlihütte!“ Siebenpfeiffer räusperte sich etwas befangen. „Sieh mal: dein Feind da mit dem Beuschel, der hatte vorhin ganz recht, als er sagte, dass aus solch einer überfüllten, mit Tabaksqualm und Bierdunst durchzogenen, lärmenden Schutzhütte alle Romantik flieht. Die Bergwelt ist wie ein schönes Weib. Man muss mit ihr allein sein, unter vier Augen. Dann hat man was davon. In Gesellschaft nicht. Drum will ich die Nacht heute allein in der ‚Törlihütte‘ zubringen!“

      „Verrückt!“ sagte der Freund in schlichtem Ton.

      Martin Siebenpfeiffer zog die Brauen hoch. „Wieso denn?“ tadelte er. „Die Hütte ist seit heute eröffnet. Köchin und Kellnerin, die Monika und die Veronika, sind oben und werden für mich sorgen. Ich werde leben wie Gott in Frankreich, bei Gulasch und Ziegenmilch – du weisst, dass ich als Abstinenzler keinen Tropfen Wein trinke – und vor Sonnenuntergang bei einer guten Zigarre draussen vor der Hütte sitzen – ganz allein und Selbstherrscher in meinem kleinen, neugeschaffenen Reich –, dann noch ein bisschen drinnen beim Lampenlicht träumen und auf den Sturmwind draussen horchen und schlafen gehen, ohne schnarchenden Kameraden und ohne Lärm von kneipenden Spätlingen aus der Wirtsstube. Und morgen jodle ich euch, wenn ihr zur Einweihung heraufkeucht, als ein ausgeruhter, munterer Mann entgegen.“

      „Aber heute abend kommt doch Fräulein Lori Vogel an!“

      „Ach – Lori Vogel!“ Martin Siebenpfeiffer wurde plötzlich etwas verstimmt. „Es kann sich doch nicht alles in der Welt um Lori Vogel drehen. Ich bin doch nicht mit ihr verheiratet!“

      „Noch nicht!“ bestätigte der finstere Freund.

      „Ich werde ihr eben morgen früh guten Tag sagen! Richte ihr das aus! Ich hätte noch dringend oben in der Hütte etwas zu tun! Das muss sie doch begreifen!“

      Er schnürte geschäftig seinen Rucksack zusammen, warf ihn sich über die Schulter ins Kreuz, stülpte das Wetterhütchen verwegen auf den Kopf und bot dem Amtsbruder die Hand. „Gehst du noch ein Eckchen mit?“

      „Keinen Schimmer!“ erwiderte der Freund.

      „Alsdann – pfüet Gott!“ sagte Siebenpfeiffer treuherzig wie ein waschechter Tiroler und trat hinaus in den grell über dem weissen Wegstaub vor dem Wirtshaus brütenden Sonnenschein. Einen zornigen Blick warf er noch einmal zu dem „Weisen Lamm“ hinüber – das fehlende „z“ gab ihm, wie immer, einen Stich ins Herz –, dann stieg er wohlgemut mit dem Bergstock schlenkernd die grünen Matten zur Törlihütte empor.

      Er atmete auf bei dem Gedanken, dem „Weisen Lamm“, dem Kampf ums tägliche Brot darinnen, dem Haschespiel mit der Kellnerin, ja selbst der Gesellschaft des finsteren Freundes entronnen zu sein. Mochte der den Nachmittag hungernd und bierbegehrend im Tal verkümmern, er, Martin Siebenpfeiffer, wanderte voll feuriger Begeisterung zur Höhe.

      Einige hundert Schritte in gipfelstürmender Hast! Dann kamen, je steiler der Hang wurde, der kurze Atem und der Schweiss in der stechenden Mittagsglut. Während er immer langsamer, immer bedächtiger Fuss vor Fuss setzend weiterklomm, stieg trotz der prächtigen Bergwelt ringum, der grünen Wiesen, der weissen Firndächer unter dem blauen Himmel und des verschwenderisch alles erwärmenden Sonnengolds eine beklemmende Schwermut in ihm empor.

      War er nicht, wie er da mühsam zu der endlich errungenen Hütte hinaufschlich, ein General ohne Heer, ein Sieger ohne jubelndes Volk? Wo blieben die Vereinskameraden am morgigen Jubeltag? Sie liessen ihn allein, all die Menschen, an die er, der alternde Junggeselle, sich in Ermangelung eines eigenen Heims so gerne mit naiver Zutraulichkeit anschloss, sie alle, ausser Lori Vogel, nahmen gar keinen Anteil an seinem Stolz und seiner Freude über das doch zu ihrem Besten von ihm gestiftete Werk.

      Niemand brauchte ihn. Niemand dankte ihm. Am wenigsten die Bergsteiger, die von morgen ab lärmend, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt, die Törlihütte füllten. Wozu hatte er nun mit all dem Feuereifer die drei Jahre gearbeitet? Immer für Fremde, denen er fremd blieb. Wo war das Eigene in seinem Dasein, das Persönliche, von

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