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nicht mehr genau, wann, also, in welchen Jahren er dort dabei gewesen und wie er jeweils dorthin gekommen ist. Damals war die Stadt nichts als die Kulisse für eine rauschhafte Straßenschlacht oder hätte es sein sollen, denn was genau gelaufen ist, daran kann er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Jetzt – je tzt ist Hannover einfach eine Stadt, so ein graues Ding, fraglos größer als sein Heimatkaff Leer, eine Großstadt und die Landeshauptstadt eben, und doch weiß er hier nichts mit sich anzufangen. Wie denn auch? Er hat sein ganzes Leben hinter sich zurückgelassen, für sie, mit ihr, und nun hockt er hier, auf ihrem Sofa, in ihrer Wohnung, ihrem Leben. Dummerweise passt außer ihr nichts davon zu ihm. Und seit sie wieder arbeitet, hat er viel zu viel Zeit und nichts zu tun. Heute früh kam ihm in den Sinn, Henry anzurufen, der seine einzige Verbindung nach Friesland, nach Hause ist. Vielleicht hätte der eine Idee für ihn, vielleicht würde der ihn auf andere Gedanken bringen, ihm irgendwie klarmachen, dass seine Entscheidung für sie und das neue, andere Leben die richtige gewesen ist. Und, ja, ein bisschen vermisst will er auch werden. Doch sein Freund hat gleich mit den ersten Fragen den wunden Punkt getroffen, einfach so, wie immer: Wie es Ratte geht, was Sache ist, ob es läuft, zwischen ihr und ihm, ob es klappt, so ohne ... alles eben. Nicht ganz ohne alles, muss Ratte zugeben, nur wisse er nicht, wo er hier was zu rauchen herbekommen soll. Hier hat er keinerlei Kontakte und wann er das letzte Mal ausgerechnet ein Bedürfnis nach Gras verspürt hat, weiß er nicht mehr. Jetzt aber – sie kann er ja wohl kaum nach einer Quelle fragen, die Stadt ist ihr Revier und damit zu riskant. Aber sonst kennt er doch niemanden in der Stadt und schon gar nicht außerhalb, auf dem platten Land drum herum. Kein Problem, hat Henry gemeint, solang’s nur das ist. Er hat als Krankenpfleger (und nicht nur als solcher) so manches Krankenhaus im Land kennengelernt, und nebenbei ist er mit den Rotzgeiern auf den verschiedensten Punk- und Indie-Festivals gewesen. Er kennt sich aus, wo Ratte verzweifelt: Mit all den Bädern und Kurkliniken gibt’s rund um Hameln genug Menschen, die vor lauter Langeweile einen Joint nach dem anderen qualmen. Und weil das Zeug längst nicht in jedem Vorgarten wächst, braucht es Menschen, die für den Nachschub sorgen. Henry hat Ratte ein paar Namen genannt, sie haben noch ein paar Takte gequatscht und das war’s. Das heißt, das wär’s gewesen, hätte Ratte nicht direkt wieder zum Hörer gegriffen. Gleich der erste auf Henrys Liste ist zu Hause und hat nichts gegen einen neuen Kunden. Der Typ hat keine Eile, er hat das ganze Wochenende Dienst in der Kurklinik.

       Es wäre die Gelegenheit für ein romantisches Wochenende zu zweit gewesen. Noch vor ein paar Tagen hat sie ihm von dem Wasserschloss erzählt, wo man im Sommer Theaterstücke sehen könne, und von dem Italiener geschwärmt, gleich dort ums Eck, der die besten Linguini diesseits der Alpen macht. Sie hätte sich sicher gefreut, hätte Ratte die paar Stunden gewartet, um ihr einen Wochenendausflug nach Bad Pyrmont vorzuschlagen. Doch ihm fiel die Decke jetzt auf den Kopf, und sie wäre frühestens in sechs Stunden wieder zu Hause. Der Routenplaner dagegen behauptete, er könne es locker in drei Stunden schaffen. Eben das Zeug geholt, ’nen Kaffee mit dem Typen getrunken, und er ist wieder zurück, bevor sie nur ihr Büro verlassen hätte. Außerdem wäre er beschäftigt und es bestünde keine Gefahr, dass sie was merkt. So hat er sich das gedacht. Denn er ist sich nicht sicher, wie sie das sehen würde mit dem Gras und überhaupt.

       So weit die Theorie, in der weder Geschwindigkeitskontrollen noch eine alte Fahndung irgendeine Rolle gespielt haben. Dummerweise sieht die Praxis ganz anders aus. Nun sitzt er hier, mal wieder in einer Zelle, und weiß nicht: Was haben die Bullen diesmal gegen ihn in der Hand – außer seiner alten Bewährung, dem neuen Gras, dem Fahren ohne Führerschein, dem »gestohlenen Wagen« und dem überraschenderweise noch offenen Haftbefehl aus Leer? Jetzt geht es nicht mehr um Geschmacksfragen – es ist bei ihr schwer vorherzusehen, welche potenziellen Rausch- und Suchtmittel sie akzeptabel finden und welche sie in Bausch und Bogen verdammen wird. Oh Fuck, wieso hat er schon wieder spontan losgelegt und das Denken erst angefangen, als ihm die Enge der Zelle im Gewahrsam jeden Handlungsspielraum genommen hat? Was wird sie zu all dem sagen, wie wird sie reagieren? Sauer ist sie mit Sicherheit – verdammt, er ist wirklich ein Idiot, denkt er zum x-ten Mal in den paar Stunden, die er hier drinnen sitzt.

       Und dann geht die Tür auf und er kann es kaum glauben: Sie! Ausgerechnet sie!

       »Halt dich zurück«, zischt sie ihn an, und setzt ihr allerstrengstes, unnahbarstes Bullettengesicht auf.

       »Florian Berger«, sagt sie, »ich nehme Sie jetzt mit nach Hannover und erwarte, dass Sie keinen Widerstand leisten und keine Dummheiten versuchen. Ihre Hände, bitte.« Er streckt sie aus, ihr entgegen, und hat Mühe, das Grinsen zu unterdrücken, als sie mal wieder, schon wieder ihre Handschellen um seine Handgelenke zuschnappen lässt.

       *

       Sie packt ihn eine Spur zu hart am Arm und schiebt ihn abrupt aus der Zelle, stößt ihn fast von sich. Besser ist das, sonst ohrfeigt sie ihn noch für sein Grinsen oder brüllt ihn für seine Dummheit an. Damit hat sie nicht gerechnet – so viele Emotionen, so plötzlich, und das mitten – mitten im Einsatz, sozusagen, mittendrin eben, hier, unter den Argusaugen der Kollegen. Gut, jetzt, in diesem Moment, ist niemand zu sehen oder – schlimmer noch – sieht sie. Wer treibt sich schon freiwillig an einem sonnigen Freitagnachmittag im Zellentrakt herum. Gut, sehr gut, vorn am Tresen steht POK Berentz noch immer allein. Sie geht mit festem Schritt auf ihn zu, schiebt ihren Gefangenen vor sich her. Sie unterdrückt den Drang zu rennen und versucht, den dröhnenden, treibenden Herzschlag zu ignorieren. Den kann niemand außer ihr sehen oder hören. Wie es in ihr aussieht, das bekommt niemand mit, egal, wie es sich anfühlt. So viel hat sie bei den paar verdeckten Einsätzen mitbekommen. Nur – bisher wusste sie stets Hagen irgendwo da draußen, nur ein Zeichen, einen Anruf entfernt. Und sie wusste ihn auf ihrer Seite, selbst, wenn er ihre Methoden nicht immer billigte. Er stand hinter ihr, komme, was wolle. Bis ... nein, nicht daran denken. Das gehört nicht hierher. POK Berentz spricht sie an, aber sie versteht nicht, was er sagt. Sie sieht nur das Klemmbrett mit den Papieren, sie schaut drauf, aber es könnte Chinesisch sein oder Altägyptisch. Egal, niemand liest solche Standardformulare wirklich. Sie will ihren Kugelschreiber aus der Jacke fischen, da sieht sie, dass Berentz ihr schon seit Sekunden seinen offeriert. Sie lächelt, nickt, murmelt ein »Danke«, nimmt den Stift, unterschreibt, legt den Stift aufs Klemmbrett und schiebt dem Uniformierten alles zusammen über den Tresen hin. Im Augenwinkel sieht sie die Ablösung kommen. Eine junge Frau, die wohl nicht zum ersten Mal spät dran ist. Sie eilt im Laufschritt den Gang entlang, zieht gekonnt ihren Pferdeschwanz gerade und versucht dann, ihre Krawatte zu richten. Charlie setzt ihr Vorgesetztengesicht auf, grüßt die Frau knapp, verabschiedet sich mit einem Kopfnicken von POK Berentz und schiebt ihren Gefangenen aus der Tür. Nur noch wenige Meter, dann sind sie beide draußen. Geschafft. Da steht ja ihr Wagen. Niemand hindert sie daran wegzufahren. Nur – wohin jetzt? Ohne Auftrag ist das Leben eine verflucht komplizierte Angelegenheit.

      Januar oder der Eingang ins Labyrinth

      Der klapprige VW-Bus war am JuZ an der Friesenstraße vorbeigefahren, ohne anzuhalten. Auch am Bahnhof, wo an diesem schmuddeligen Januarabend kaum mehr was los war, hatte er seine Fahrt nicht verlangsamt. Im Industriegebiet an der Nesse, dort, wo die großen, grauen Hallen den Blick auf den Hafen verstellten, stoppte das mit dem Anarchie- und anderen szenetypischen Punkzeichen besprühte Gefährt immerhin für die Länge einer selbstgedrehten Zigarette, bevor es zögernd die beinahe großstädtische Kulisse mitten im friesischen Leer wieder verließ. Wundervoll hässliche Betonflächen nützten nichts, wenn sie niemand – außer den verbliebenen Arbeitern – ansah. Damit waren sie so unbrauchbar wie all die sauberen Eigenheime, die schmucken Backsteinbauten, eben die ganze verfluchte Friesenidylle. Also war der Bulli immer weitergefahren, bis er schließlich das Nichts hinter Tennisanlage und Schrebergärten erreichte. Leer und verlassen stand er nun da, während seine Insassen – ein dünner, junger Mann in zerfetzter Jeans, bemalter Lederjacke und ausgelatschten Docs, und eine undefinierbare Promenadenmischung, die nur auffiel, weil sie im Gegensatz zu allen anderen punkerbegleitenden Vierbeinern Leers schmutzbraun statt nachtschwarz war – ein paar Straßenecken weiter nahe der Fetenscheune auf ihre Art beschäftigt waren.

      Hier gab es keine Idylle, das hätte auch nicht zum »harten« Ruf der derzeit angesagtesten Diskothek

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