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sie sah so jung und eifrig und rotbackig aus, ein bißchen zerrauft, aber das stand ihr gut.

      „Ach, heute noch nicht“, sagte sie und goß sich Milch in den heißen Kaffee, „du fängst doch diesen Herbst mit der höheren Schule an. Da lohnt es nicht mehr, in eine andere Volksschule zu gehen. Die Arbeiten zur Aufnahmeprüfung habt ihr doch schon geschrieben.“

      „Und da brauch’ ich jetzt nicht …“ Anja sah Mutter mit weit aufgerissenen Augen an.

      „Nein. Nächsten Montag bringt dich Vater ins Gymnasium, dann sind dort die mündlichen Prüfungen. Nach dem, was du schriftlich geleistet hast, brauchen wir keine Angst zu haben“, sagte Mutter. „Er war bei deiner Klassenlehrerin. Es wird schon alles klappen, Anja. Nun iß – nachher läufst du mir rasch zum Einkaufen. Gegenüber, weißt du, das Geschäft am Platz. Ist das nicht praktisch für uns, es so nahe zu haben?“ Mutter plauderte weiter. Anja saß und schluckte an dem Stück Brot, das sie sich abgebröckelt hatte, schluckte und schluckte. Es wurde immer mehr im Mund.

      Vielleicht bin ich wirklich krank, oder ich werde krank, ich ziehe einen Bären, wie Mutter das früher nannte, wenn ich mich schlecht fühlte. Nächste Woche in die höhere Schule, Aufnahmeprüfung, lauter neue Kinder, die einander noch nicht kannten. Das war doch dann nicht so schlimm, oder es war für alle gleich schlimm …

      Sie versuchte, sich das einzureden. Sie wollte auch nicht krank werden. So verlockend die Vorstellung war, zurück ins Bett zu kriechen und die Dekke über den Kopf zu ziehen, zu sagen: „Mir ist nicht gut“ – der Gedanke an Kerlchen, der auf sie wartete, war stärker. Nein, nicht krank werden! Sie wollte Mutter gern helfen, wenn sie nachmittags wieder hinauslaufen und Kerlchen füttern konnte, vielleicht wieder aufsitzen, vielleicht ein Stück reiten …

      Eins aber wußte sie genau, wenn sie es auch nicht denken mochte. Jetzt war alles, alles anders als früher. Nicht nur die Wohnung, die Wohngegend, die Schule – alles war anders, das ganze Leben. Erschreckend, beängstigend, bedrückend anders, sie kam nicht daran vorbei. Aber inmitten dieser fremden und gefährlichen Weite stand etwas Warmes, Lebendiges, Gutes, etwas, das auf sie, Anja, wartete.

      Petra

      Der Regen fegte schräg herab, es war abscheulich kalt. Anja hatte sich nicht die Zeit genommen, den Wintermantel herauszusuchen, sondern war in ihren Sommeranorak geschlüpft, um endlich fortzukommen. Der Anorak war dünn, vorn und an den Schultern glänzte er dunkel vor Nässe. Schnell, schnell in den Stall hinein!

      Wenn nur der Reitlehrer nicht drin war! Der konnte es nicht leiden, daß man kam, ohne zur Stunde angemeldet zu sein. „Hier ist kein Spielplatz für Kleinkinder“, hatte er einmal gebrummt, als sie sich gerade mit Othello neckte. „Oder reitest du heute?“

      „Nein, ich –“, hatte sie gestammelt und nicht weitergewußt. Da aber kam Herr Anders mit der Karre und gab ihr die Gabel in die Hand.

      „Anja hilft, sie ist furchtbar tüchtig“, sagte er und lächelte den Reitlehrer an. Der zögerte eine Sekunde und ging dann hinaus. Anja hatte den Atem angehalten. Herr Anders lachte leise.

      „Natürlich darfst du bleiben, so fleißig, wie du bist.“

      Aber Respekt vor dem Reitlehrer hatte sie eben doch noch. Es wäre jedenfalls besser, wenn er nicht da wäre.

      Sie luchste durch den Türspalt. Die Stallgasse war leer. Gottlob! Hineingeschlüpft, Anorak aus, über den Pfosten geworfen. Warme, ein wenig feuchte, dunstige Luft, Geruch nach Heu, Stroh, Mist – und Pferden. Wunderbarer Geruch.

      „Grüß dich, Anja. Wieder mal durchgebrannt zu Hause?“

      Das war Herr Anders. Er trat aus dem Stand von Faruk, die Mütze ein wenig schief auf dem Kopf, und lächelte Anja an. Sie lachte ihm zu, jetzt ganz selbstvergessen und glücklich.

      „Ja, das heißt, ich darf! Mutter hat gesagt, ich kann laufen, weil ich vormittags fleißig war. Wenn ich vormittags helfe, darf ich nachmittags her, wissen Sie.“

      „Dann hilf nur vormittags tüchtig. Damit ich nachmittags hier Hilfe hab’.“

      Herr Anders war früher Lehrer gewesen, eine der Reitschülerinnen hatte ihr das erzählt. Lehrer an einer Sonderschule, also bei schwach begabten Kindern, jahrelang. Und dann war er pensioniert worden und als Pferdepfleger hierhergekommen.

      „Prima, nicht?“ sagte Petra, die schon zwölf Jahre alt war und seit längerem hier ritt. „Ich werd’ auch Pferdepfleger, aber schon eher. Nicht erst mit sechzig.“ Petra lachte, in ihren Augen tanzten die Funken. Sie trug neuerdings ihr Haar ganz kurz, abgeschoren wie ein Schäfchen, nur vorn über der Nasenwurzel war es ein ganz klein wenig länger und stand im Wirbel empor. „Was glaubst du, wie meine Mutter geschimpft hat, als ich so nach Hause kam“, erzählte sie und kratzte dem Condor den Huf aus, „steh still, alter Zausel, ich tu’ dir schon nicht weh! Aber es war nicht mehr zu ändern, was ab ist, ist ab. Ich habe es ja nur abschneiden lassen, weil er“ – damit meinte sie den Reitlehrer – „dauernd über meine langen Haare schimpfte. Er behauptete, ich hörte nichts, wenn sie mir so über die Ohren wüchsen, und es wäre kein Wunder, wenn ich keine richtige Antwort geben könnte. Beim Reiten müßte man denken, und wenn man denken wollte, müßte man hören, was er sagte.“ Sie lachte, ihre Augen wurden zu ganz schmalen Schlitzen über den prallen, runden Wangen. Petra lachte eigentlich immer, sogar, wenn sie runterflog, noch in der Luft, so hatte es Anja erlebt.

      Gerade kam sie hereingeschusselt, das Gesicht so naß vom Regen wie Anja vorhin, und vergnügt! „Bist du schon da? Na prima. Du wohnst aber auch nahe, ich muß mit dem Fahrrad herstrampeln. Wen krieg’ ich denn heute? Die Wanda? Das darf doch nicht wahr sein!“

      „Doch, die Wanda“, sagte Herr Anders und hob eine Gabel voll Mist auf die Karre, „die Wanda hat ja monatelang nichts getan, die dicke Kuh.“

      „Du bist keine Kuh, hör ja nicht drauf!“ Petra lachte und schob die dralle Kruppe der Haflingerstute an die Seite, um in ihren Stand hineinzukönnen. „Dick bist du, wahrhaftig, aber deshalb noch lange keine Kuh.“

      Wanda und Bubi standen in einem Behelfsstand am Ende der Stallgasse, sie waren die einzigen Haflinger im Stall, alles andere Großpferde. Dadurch wirkten sie kleiner und gedrungener, als sie waren, Speckfett und stramm. Petra klatschte Wandas Hals.

      „Dich soll ich in der Halle um den Hufschlag bringen? Lieber Himmel, da brauch’ ich ja Sporen. Dich vorwärts zu kriegen, dazu gehört Kraft!“

      „Sag das nicht. Die Wanda ist schnell“, sagte Herr Anders und blieb am Stand stehen, „sie hat lange nichts getan, war bis jetzt Besitzerpferd, und der hatte nie Zeit. Vorige Woche hat der Reitverein sie übernommen.“

      „Und ich bekomme also die ehrenvolle Aufgabe, sie zu reiten?“ sagte Petra. „Na, gute Luft. Komm her, erst wollen wir dich mal schönmachen.“

      Anja stand, in einer Hand den Striegel, in der anderen die Kardätsche, und sah Petra an. Sie bewunderte die Ältere, ohne es zu wissen, hingegeben und sehnsüchtig. Petra machte sich aus nichts etwas draus, aus keinem Anpfiff des Reitlehrers und keiner Schelte zu Hause. Sie ging in jeden Stand hinein, ohne sich in acht zu nehmen, sprach das jeweilige Pferd zwar an, wie man es tun soll, aber es machte ihr überhaupt nichts aus, wenn es unruhig hin und her trat oder sie an den Rand drängte. Petra benahm sich überall, als sei sie zu Hause, beneidenswert, fand Anja. Wenn Petra in ihre Klasse ginge …

      Aber die war natürlich zwei Jahre über ihr. Anja strich den Gedanken an die Schule schnell wieder aus und ging zu Kerlchen in den Stand, um ihn zu putzen. Sie putzte ihn jeden Tag, Herr Anders sagte, das täte ihm gut, auch wenn er nicht geritten würde. Gut geputzt ist halb gefüttert, eine alte Weisheit. „Jaja, du bist doch mein Bester.“ Petra schimpfte mit Wanda, Anja hörte es bis hierher.

      „Steh still, alte Scharteke, oder es setzt was. Na, weißt du, der unterste ist meiner. Runter von meinem Fuß!“

      Herr Anders lachte, leise amüsiert. Man hörte, wie er die Karre absetzte. „Geh rum – so ist’s schön.“

      Anja

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