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neuen Substanz oder einer wesentlichen Veränderung der ursprünglichen Komponenten käme – selbst dann nicht, wenn ihre Interaktion wirksame Konsequenzen hat, indem sie zum Beispiel die innere Logik jeder Figur verstärkt.

      Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir die kantische Moral in Verbindung mit der positivistischen Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften; und im 20. Jahrhundert nimmt die Psychoanalyse Beziehungen zum Marxismus auf, der Surrealismus zum Anarchismus usw.

      Allerdings erfordert ein systematischer Gebrauch unseres Begriffs eine bestimmte Anzahl von Definitionen, ohne die er als Konzept nicht wirksam wäre. Zu Beginn müssen wir bedenken, daß es mehrere Ebenen oder Stufen von Wahlverwandtschaft gibt:

      1. Die erste ist einfach Verwandtschaft, geistige Nähe, strukturelle Homologie (ein Begriff, der in der Literatursoziologie von Lucien Goldmann Verwendung findet), Korrespondenz im Sinne von Baudelaire.

      2. Die Wahl, gegenseitige Anziehung, aktive Entscheidung von zwei sozio-kulturellen Konfigurationen füreinander. Sie führt zu bestimmten Formen der Interaktion, der gegenseitigen Stimulierung und der Konvergenz. An diesem Punkt beginnen die Analogien und Konvergenzen dynamisch zu werden, aber die beiden Strukturen bleiben getrennt.

      Auf dieser Ebene oder am Übergang zur folgenden ist die Wahlverwandtschaft zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus angesiedelt, von der Max Weber spricht.

      3. Die Paarung, Verbindung oder »Mischung« zweier Partner. Sie kann entstehen aus unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft:

      a)Sie könnte als »kulturelle Symbiose« bezeichnet werden. Beide Figuren bleiben unterscheidbar, sind aber organisch miteinander verbunden.

      b)Eine Verschmelzung findet nur teilweise statt.

      c)Die völlige Verschmelzung (die chemische Hochzeit von Boerhaave).

      4. Die Bildung einer neuen Figur. Sie entsteht aus der Verschmelzung wesentlicher Elemente. In diesem Sinne verwendet Goethe den Begriff, doch in den Untersuchungen Max Webers fehlt diese Dimension. Sicher ist es schwierig, zwischen der dritten und der vierten Stufe zu unterscheiden: ist beispielsweise die Psychoanalyse marxistischer Prägung nur eine Verbindung von zwei unterschiedlichen Denkrichtungen, oder haben wir es hier mit einer ganz neuen Form des Denkens zu tun, ebenso verschieden von der Psychoanalyse wie vom historischen Materialismus?

      Es könnte nützlich sein, unser Konzept mit anderen Begriffen oder Kategorien zu vergleichen, derer man sich gewöhnlich bedient, um Beziehungen zwischen sinnträchtigen Strukturen zu analysieren. Nur auf diese Weise können wir uns Klarheit verschaffen über seine besonderen Eigenschaften, auch über die Möglichkeiten, die es uns bietet. Wahlverwandtschaft, so wie wir sie hier verstehen, ist nicht gleichzusetzen mit ideologischer Affinität zwischen verschiedenen Varianten derselben sozialen und kulturellen Strömung, z. B. zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus, zwischen Sozialismus und Egalitarismus usw. Die Wahl, Entscheidung füreinander setzt Distanz voraus, einen geistigen Abstand, der überwunden werden muß, eine Art von ideologischer Heterogenität. Andererseits ist Wahlverwandtschaft keinesfalls identisch mit »Korrelation«; ein vager Begriff, der lediglich besagt, daß es zwischen zwei verschiedenen Phänomenen eine Beziehung gibt. Wahlverwandtschaft bezeichnet ein ganz bestimmtes sinnvolles Verhältnis, es hat nichts zu tun mit einer statischen Korrelation, wie beispielsweise der zwischen Wirtschaftswachstum und Abnahme der Geburtenziffern. Wahlverwandtschaft ist auch kein Synonym für »Einfluß«. Sie beinhaltet ein Verhältnis, das viel aktiver ist und von beiden Seiten getragen wird, das zur Verschmelzung führen kann. Es ist ein Begriff, der uns erlaubt, Interaktionsprozesse zwischen Elementen darzustellen, deren Verhältnis weder unmittelbar kausal noch »expressiv« wie das zwischen Form und Inhalt ist. (Zum Beispiel ließe sich die Form der Religionsausübung als Ausdruck eines politischen oder sozialen Inhalts deuten).

      Unser Begriff kann andere Paradigmen nicht ersetzen, soweit sie der Analyse, der Erklärung und dem Verständnis dienlich sind. Aber er öffnet uns eine neue, bisher kaum bekannte Sicht auf Fragestellungen der Kultursoziologie.

      Übrigens ist es erstaunlich, daß seit Max Weber so wenig unternommen wurde, ihn zu überprüfen und im Rahmen konkreter Forschungsaufgaben anzuwenden.

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