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Jojo-Herz. Hilde Hagerup
Читать онлайн.Название Jojo-Herz
Год выпуска 0
isbn 9788711464489
Автор произведения Hilde Hagerup
Издательство Bookwire
Sie hatte so lange Mmmm gesagt, dass die anderen vielleicht glaubten, sie habe die große Auswahl, könne sich nicht entscheiden. Sie glaubte sogar selber, dass ihr Mmm vielleicht bewirken könnte, dass sie plötzlich Bilder vor sich sähe. Sie und ihre Mutter, die über eine Blumenwiese liefen, die Mutter, die mit grüner Seife einen Holzboden schrubbte, ehe Elisa und ein Hund hereingestürzt kamen. Die Mutter, die beide in die Arme nahm und küsste, obwohl sie den frisch geputzten Boden schon wieder schmutzig gemacht hatten. Reklame. Sie hatte gehofft, dass das Mmm wirken würde, aber es kam kein Bild, nichts aus der Zeit vor der Bahnfahrt zu Cillia. Nicht einmal die Umrisse eines Bildes. Nicht einmal Schwärze. Nur Leere. Nur Nichts.
– Elisa? Woran kannst du dich am besten erinnern, Elisa?
– Mmmm. An gar nichts.
Hinter ihr kicherte jemand. Frau Evensen sagte, es sei ganz in Ordnung, nicht immer zu wissen, was man sagen sollte. Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Welche Jahreszeit mögt ihr am liebsten? Elisa hatte gemerkt, dass sie rot angelaufen war, im Gesicht und im Nacken. Warum konnte sie sich an nichts erinnern? Warum war sie die Einzige, die sich an nichts erinnerte? Und dann hörte sie Siri Margretes klare, flüsternde Stimme hinter sich.
– Die arme Elisa. Ihre Mutter ist krank im Kopf. Angeblich ist das erblich. Bestimmt kann sie sich deshalb an nichts erinnern.
– Siri Margrete, sagte Frau Evensen. – Jetzt reden wir von den Jahreszeiten.
– Ja, sagte Siri Margrete.
Elisa spürte ihren Blick im Nacken. Neugierig. Die absolute neugierige Supertrine. Als sei Elisa nicht Elisa, sondern eine Schaufensterpuppe ohne Arme und Beine. Sie drehte sich nicht um. Sie presste einfach nur die Lippen aufeinander und konzentrierte sich auf die Jahreszeiten.
Sich ausdenken. Lügen. Lügen. Sich ausdenken. Wer keine Kindheit hat, muss sich selber eine machen. So ist das eben. So war es eben. Woran kannst du dich von früher am besten erinnern, Elisa? Dass ich Sonnenblumenspangen in den Haaren hatte und an eine Katze, der ich Puppenkleider angezogen habe.
– Wie hieß deine Katze denn, Elisa?
– Wie hieß deine?
– Meine Katze hieß Wuschel.
– Komisch, so hieß meine auch.
– Red keinen Müll. Elisa.
– Bloß weil meine Katze auch Wuschel hieß!
– Hau ab!
Sich ausdenken. Lügen. Lügen. Sich ausdenken. Da kommt Elisa, da kommt Elisa. Passt auf, Mädels, nehmt euch in Acht. Da kommt die verrückte Elisa. Ebenso knatschverrückt wie ihre Mutter. Das ist erblich, das ist erblich, das steckt an, das steckt an. Passt auf, Mädels, nehmt euch in Acht, nehmt euch in Acht vor der verrückten Elisa.
Elisa bog langsam um das Haus und stieg dann die baufällige Treppe vor der Haustür hoch. Auf Cillias Bild war das Haus unversehrt und sauber und weiß. Der Rasen war gepflegt. Sogar Wald, Fluss und die Berge dahinter sahen ordentlicher aus. Trotzdem gefiel Elisa alles jetzt besser. Eine Alm ganz hinten am Fjord soll nicht frisch angestrichen sein. Die faulen Bretter in der Treppe passten besser zum Haus. Sie passten besser zu Fluss und Bergen und Gletscher dahinter. Cillia hätte das auch gefallen. Nicht sofort, aber nach und nach. Elisa sah sie vor sich auf der Treppe, mit Schirmmütze und gestreifter Hose, die Hände in die Seiten gestemmt, die Ellbogen nach außen, wie sie auf einem Grashalm herumkaute und dabei ein lautes Selbstgespräch führte.
– Ja, ja, Prinzessin. Sieh dir das an, Prinzessin. Das hier hat auch seinen Charme, findest du nicht? Zerfallende Treppe, Moos an den Fensterrahmen, überwucherte Beete. Aber es ist trotzdem schön, findest du nicht?
– Doch.
– Was hast du gesagt?
– Ich habe gesagt, dass ich es wunderschön finde, Cillia.
Sollte es nie mehr eine Cillia geben? Sollte es nie mehr eine geben, die Elisa in die Luft warf und rief: Aufgepasst jetzt, Prinzessin! Sonst kommt deine Großmutter und frisst dich auf. Weißt du nicht, dass Omas nichts so gern fressen wie kleine Enkelkinder? Vor allem mit Zimt und Zucker. Ich will Elisa mit Zimt und Zucker. Zum Nachtisch will ich Elisa mit Zimt und Zucker.
Cillia wäre in ein Hotel gezogen. Da hätten sie alle drei gewohnt. Und dann hätten sie nachmittags auf einem Balkon gesessen und die Sonne angesehen. Die Sonne sollte groß und rund und leuchtend sein, und der Himmel immer blau. Immer dieselbe Farbe wie ein Vergissmeinnicht.
Aber so ist es nicht gekommen, dachte Elisa.
Es kommt nämlich nie so, wie wir uns das wünschen. Elisa ging von einer Seite des Hauses auf die andere, hinkte dabei aber auf dem rechten Fuß. Sie hatte sich verletzt, als sie aus dem Fenster gesprungen war. Sie war barfuß. Das war eigentlich schön gewesen. Aber es brannte.
Sie wollte sich gerade auf die Treppe setzen und sich den Fuß vors Gesicht halten, um sich die Wunde richtig ansehen zu können, als sie den Walkman hörte. War das nicht einer? War das nicht ein voll aufgedrehter Walkman? Woher kam dieses Geräusch? Kam es vom Fluss? Kam es von der anderen Seite des Hauses? Aber da war sie doch eben erst gewesen. Sie hatte doch eben noch unter dem Wohnzimmerfenster gestanden und zugehört, wie die Fahrräder über den Kiesweg verschwunden waren. Und andere Menschen waren dort nicht gewesen. Oder waren da doch noch welche? Waren Johanne und Martin nicht allein gekommen?
Elisa humpelte langsam mitten auf den Rasen hinaus, so weit, dass sie den Fluss sehen konnte, so weit, dass die Wiese auf der anderen Seite und der Wald, der die Wiese umgab, hinter der Hausmauer zum Vorschein kamen. Sie ging so weit, dass sie den kleinen Steg sehen konnte. Dort blieb sie stehen. Blieb stehen und starrte. Elisa hatte die Vögel entdeckt. Auf dem anderen Flussufer, auf dem großen Feld vor dem Wald, saß ein Teppich aus Gänsen, hunderte, tausende; sie schienen zu singen, sie machten das seltsame Walkman-Geräusch. Die Gänse wollten jetzt losfliegen. Elisa starrte sie an. Die Gänse starrten zurück. Sie schienen mit dem Losfliegen zu warten, um zurückstarren zu können. Dann hob der Teppich langsam ab, zuerst auf der einen Seite, dann auf der anderen.
Jetzt war wieder das Walkmangeräusch zu hören, dieses laute schrille Geräusch, das trotzdem schön war, das trotzdem ei-ne Art Musik war. Elisa lief zum Fluss hinunter. Es machte nichts, dass sie nicht richtig gehen konnte, sie lief trotzdem. Sie lief, sprang und legte den Kopf in den Nacken. Da oben flogen sie, da flogen sie und ihre Geräusche klangen schöner, je höher sie kamen, je mehr sie sich dem Dach von Bjerkebakk näherten. Sie selber wurden auch schöner. Die Vögel wurden zu einem Muster. An einigen Stellen flogen sie so dicht, dass Elisa nicht mehr sehen konnte, ob der Himmel über ihnen blau oder hellgrau war, oder ob ihn vielleicht eine große weiße Wolke verdeckte. An anderen Stellen hatten sie sich verteilt, sodass Licht und Farbe durchkamen und die Gänse vor dem hellen Hintergrund zu dunklen Silhouetten wurden. Dieser Anblick erinnerte Elisa an die Tapete in Cillias Schlafzimmer. Weiß und blau mit dunklen Vögeln im Vordergrund. Hier und dort ein Vogel allein. An anderen Stellen dicke, dichte Klumpen. Elisa ließ sich ins Gras fallen und schaute hoch und die Vögel schoben sich wie ein Deckel zwischen sie und den Himmel. Als wüssten sie, dass Elisa verdunsten würde, wenn niemand auf sie aufpasste. Als hätte sie sie darum gebeten, auf sie aufzupassen.
Cillia war an einem angeborenen Herzfehler gestorben. Und zwar neun Jahre, nachdem Elisa und ihre Mutter zu ihr gezogen waren, und eine Woche vor Elisas vierzehntem Geburtstag. Als Elisa morgens zur Schule ging, stand sie in der Küche und buk einen Apfelkuchen. Als Elisa nachmittags nach Hause kam, lag sie verkrümmt auf dem Küchenboden. Der Arzt meinte, sie solle sich darüber freuen, dass Cillia nicht gelitten hatte.
– Es ist schnell gegangen, sagte der Arzt. – Das kann dir doch ein Trost sein, Elisa.
Elisa hatte nur an den schwarz verbrannten Apfelkuchen denken können und an Cillias überraschten Gesichtsausdruck. So sah sie aus, nicht traurig, nicht so, als ob sie Schmerzen hätte, sondern einfach überrascht.
Also wirklich, da steh ich nun und backe Apfelkuchen, und was passiert? Das müsst ihr euch mal vorstellen! Wer hätte damit rechnen können!