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Gib mir die Hand. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Gib mir die Hand
Год выпуска 0
isbn 9788711507049
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nichts rührte sich. Nur die fast erloschene Stimme Dominik Sandbauers murmelte durch den dämmernden Raum. „. . . Ich war damals noch ein junger Bursch, Marussja . . . ich hatte mich, obwohl ich als Ehrenbürgerssohn die Adelsvorrechte hatte und nicht zu dienen brauchte, in die Opoltschenje, die Reichswehr, aufnehmen lassen und freute mich über meine grüne Uniform und hatte ein Fernrohr. Damit schauten wir aufs Meer, ob sie nicht bald kämen. Und eines Morgens, Marussja . . . das war wie eine Lustspiegelung über dem Schwarzen Meer . . . als kämen alle Schiffe der Welt auf einmal herangefahren . . . wie weisse Mauern . . . Segel an Segel . . . tausend und mehr . . . die ganze See war bedeckt, so weit man sehen konnte . . . das war die Flotte der Verbündeten, Engländer, Franzosen, Piemontesen, Türken . . . nie hatte ein Mensch derlei für möglich gehalten . . . die Muschiks knieten auf der Strasse nieder und bekreuzigten sich: Gott hat uns gestraft! Und in den Kirchen sangen die Mönche: Herr, erbarme dich! Erlöse uns von dem Antichrist . . .“
„Er ist im Krimkrieg!“ flüsterte Nicolai seiner Gattin zu. Sie waren auf ein Zeichen der Wärterin am Eingang stehen geblieben. Lisa nickte nur. Stärker als je empfand sie den leisen Schauer, den ihr auch früher schon die Erzählungen des greisen Schwiegervaters zuweilen eingeflösst. Das war für sie, die in der zweiten Hälfte der Zwanziger stand, so schwer auszudenken, dass ein Mensch noch lebte, der all jene Zeiten und Schicksale Odessas noch mitangesehen, die man heute kaum noch vom Hörensagen kannte — die Jahre, in denen in heissen Sommern der kaukasische Rotwein billiger gewesen war als das Wasser aus den Zisternen — in denen grosse Räuberbanden unmittelbar vor der Stadt in den Klüften der Steppe gehaust und die Tataren ihre Lastkamele durch die ungepflasterten Gassen getrieben hatten. Damals wohnte man hier noch an der Grenze der Wildnis, an der Schwelle des Orients, von der aus sich alljährlich Tausende von Soldaten zum Kampf gegen die Bergvölker des Kaukasus einschifften. Europa war weit, schwer zu erreichen. Man musste durch das Schwarze Meer fahren, durch die Sulinamündung und die Stromschnellen des Eisernen Tores aufwärts in wochenlanger Reise nach Wien. Das alles war so unwahrscheinlich, wenn man sich jetzt in die glänzende internationale Hafenstadt versetzt und ständig durch Eilzüge, Telegraph und Telephon mit Westeuropa verbunden wusste.
Der Kranke drinnen hatte Atem geholt. Dann sagte er müde: „Die Verbündeten haben uns aber nicht viel geschadet, Marussja! Die Stadt liegt zu hoch. Ihre Bomben konnten Odessa nicht erreichen. Vier Kanonenboote kamen bis in den Hafen . . . Eines ist aufgelaufen . . . da hat es mit einer Kettenkugel eine ganze lange Doppelreihe von unseren Soldaten in Stücke gerissen. Man lud sie auf Karren und führte sie weg, um sie zu begraben . . . es bewegte sich noch auf den Karren . . . aber die Treiber riefen: ,Gott mit euch, Brüder!‘ . . . ich hab’ dabei gestanden, Marussja! . . . In den Jahren ist die Ernte auf dem Feld verfault. Niemand konnte Getreide verschiffen . . . Da hasste ich die Franzosen und hatte sie in Paris doch gern gehabt . . . Gerade vorher hatte mich der Vater dorthin geschickt gehabt, wie ich zwanzig Jahre alt war . . . Da hab’ ich unterwegs . . . zum ersten Male in meinem Leben . . . einen Wald gesehen . . . bis dahin nur Meer und Steppe . . .“
Marussja erhob sich leise, als er verstummt war, ging zum Fenster und öffnete den Vorhang. Es wurde hell. Ein Sonnenstrahl lugte herein und spielte über den Kopf des Kranken, der still in den Kissen lag und mit seiner wachsgelben Farbe, den geschlossenen Augen und dem halboffenen Mund schon beinahe an einen Toten erinnerte. Er hatte nichts von derbem Bauerntum an sich, wie andere aus der nun schon fast ausgestorbenen zweiten Generation der in Odessa eingewanderten schwäbischen Kolonisten, deren Kinder und Kindeskinder, soweit sie zu Wohlstand gelangt, längst jede Eigenart abgestreist hatten. Dominik Sandbauer stammte aus dem stubenhockenden grüblerischen Geschlecht der Schwarzwälder Dorfuhrmacher, die jahraus jahrein in ihren einsamen Häuschen sassen und bastelten und sinnierten, und sein Vater noch war zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit einem Bündel Uhren auf dem Rücken, den Wanderstab in der Faust, in Odessa eingezogen und erst nach einer günstigen Heirat mit einer Landsmännin aus dem deutschen Kolonistendorf Gross-Liebental, die ihm Kapital mitbrachte, Getreidehändler geworden. Schmächtig und schwächlich wie er war auch Dominik Sandbauer sein Leben lang gewesen, äusserlich ein unscheinbarer kleiner Mann. Aber jetzt noch zeigte der Zug eiserner Starrheit, der unter dem schütteren grauen Vollbart um die welken Lippen eingegraben lag, dass, der da ruhte, in seiner Art kein gewöhnlicher Mensch gewesen — sondern das halb gefürchtete, halb bewunderte Vorbild eines rücksichtslos dem Erfolge alles opfernden, durch keinen Fehlschlag entmutigten Kaufmanns, der das kleine Weizengeschäft, das er als Erbe übernommen, im Laufe eines langen Daseins, über die Leichen anderer Firmen hinweg, zu seiner heutigen stolzen Höhe geführt hatte.
Der Tagesschein weckte den Kranken aus seinem Halbschlaf auf. Seine Augen belebten sich. Er erkannte Lisa. Mit einem freundlichen Lächeln streckte er ihr mühsam, zitterig die Rechte entgegen. Also zurück!“ sagte er leise. Wie geht es?“
Sie war zu ergriffen, um zu antworten. Sie nahm seine Hand und führte sie an die Lippen. Der Greis liess es geschehen. Dann wandte er den Kopf seinem Sohn zu. Sein Gesicht wurde plötzlich trotz seines leidenden Ausdrucks unerbittlich hart.
„Ist es wahr?“ sagte er mit viel lauterer Stimme als bisher.
„Was denn, Papa?“ Nicolai beugte den Kopf etwas vor, in einer schonenden Haltung, wie man mit einem Schwerkranken, nicht mehr ganz Zurechnungsfähigen spricht.
„. . . Dass du gestern wieder Getreide blanko verkauft hast?“
„Ja.“
„Und viel?“
„Ziemlich. Etwa zehntausend Tschetwert.“
„Grosser Gott!“ Der Alte zuckte, wie von einem körperlichen Schmerz getroffen, zusammen und starrte eine Weile hoffnungslos vor sich hin. Dann begann er dumpf: „Siehst du denn nicht, dass du auf diese Art die Firma ruinierst!“
„Keineswegs!“ sagte Nicolai kühl.
„Du verkaufft Unmengen von Getreide, das wir noch gar nicht besigen!“
„Wir werden es kaufen!“
„Wann?“
„Nach der Ernte.“
„Wo?“
„Hier in Südrussland.“
„Und wenn die Ausfuhr des Getreides aus Russland verboten wird, musst du anderswo kaufen, um deinen Verpflichtungen nachzukommen, und da überall in der Welt bis Amerika und Argentinien hin die Preise jäh steigen werden, eine furchtbare Differenz gegen den Verkaufspreis zahlen. Die einfachste Überlegung müsste dir doch sagen, dass man nichts riskiert, solange die inneren Gouvernements bei uns von Hungersnot und der Markt daher von einer Grenzsperre bedroht ist. Das kann dich ja Hunderttausende von Rubeln Kosten, Nicolai!“
„Es gibt eben keine Grenzsperre!“
„Doch!“
„Hast du Beweise dafür?“
„Hast du welche dagegen?“
Nicolai zuckte die Achseln und wandte sich zu seiner Frau: „Du siehst, Lisa: es ist, wie ich es dir sagte! Papa sieht die Dinge schwarz, ich sehe sie weiss. Er glaubt an das Unglück — ich glaub’ an das Glück! Da kann man sich nicht einigen.“
„Ich glaub’ nicht an das Unglück!“ murmelte der in alte Kaufmann müde. Dazu hab’ ich keinen Grund! Aber Vorsicht tut not!“
„Warst du denn immer vorsichtig?“
„Ich war es nicht. Ich habe mehr als einmal Spekulationen gewagt, bei denen viel zu gewinnen und zu verlieren war. Aber vorher hab’ ich hier im Hause des Nachts gesessen und gerechnet und alles Für und Wider erwogen und den Zufall ausgeschaltet, soweit das ein Mensch kann . . . Du aber rechnest gerade mit dem Zufall, ob das Ausfuhrverbot kommt oder nicht — du setzst blindlings auf eine Karte und denkst: Es wird schon glücken! Du bist kein Kaufmann, sondern ein Spieler. Du spielst ja fast jede Woche ein, zwei Nächte hindurch.“
Nicolais männlich-schönes Antlitz versinsterte