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wir ins Theater gehen.« Sie öffnete, ging voraus und er zögerte, hob hilflos die Achseln und folgte ihr.

      Von der weißen Decke herab strömte Licht. Schwarze Täfelung und das schwarze Holz der Möbel mahnten zur Haltung; aber das Grün des Teppichs und der Stoffe auf den Sitzen und Vorhängen leuchtete rasenhaft und milderte den Ernst des schönen Raumes zu gelassener Heiterkeit. Es war gut darin zu speisen. Der Tisch, an dem sie einander gegenübersaßen, war mit weißem feinfädigem Linnen gedeckt und symmetrisch bestellt mit Schüsseln voll Brotscheiben, dünn und locker, mit Wurstarten in einer Tonleiter von Rot, mit Gläsern für Bier und Tee, mit silbernen Bestecken und kelchartig geformten Eierbechern aus dünnem Porzellan und mit Tellern mancher Größe aus derselben edlen weißen Erde. An diesem einladenden und weißleuchtenden Tische saßen sie nun einander gegenüber, Claudia Eggeling und der Doktor Rohme, sie freimütig und heiter, leicht vorgeneigt und essend, nach Herzenslust in Bewegung mit ihrem braunen, zartrauschenden Seidenkleid – er aber noch immer ein wenig steif, noch immer etwas beengt und geradeaufragend, schwarz, mit weißer Brust, hohem Kragen und rotem Schopf, an einen Specht erinnernd … Sie aßen beide in Emsigkeit – die späte Stunde, die in dem lichthellen Zimmer nicht galt und zur Gegenwart kam, meldete sich mit Hunger – und selbst wenn Claudia Lust verspürt hätte, sogleich zu plaudern, wäre es nötig gewesen den Doktor zu wecken: denn sein ausdruckslos und starr beiseite gewandter Blick verriet zur Genüge, daß nur sein Leibliches hier anwesend sei, um zu essen, und daß sein Geist indessen anderswo schweifte, Gott weiß in welchen Gefilden … Claudia lächelte in sich hinein, ganz wenig und schalkhaft, und ließ ihn gern seinen Weg gehen, weil sie sich inzwischen herzliche Blicke gönnen durfte, nach denen ihr Gemüt drängte – sie glaubte, er sei noch im Schauspiel oder irgendwo in Goethes Welt; aber wie wäre sie erschrocken, wenn sie die Gedanken ihres Nachbarn gehört hätte! Er war nicht weit fort, er befand sich vielmehr in ihrer Nähe, er tummelte sich auf einem engen Kreise rund um sie beide und war schwer von Bitterkeit: »Und warum fühle ich mich Ihnen gegenüber gar so niedrig und mangelhaft, Claudia? Warum sitzen Sie so selbstgewiß und maßgebend da, während ich mich vor Ihnen demütige? Weil ich mich aus der Dürftigkeit meiner Geburt zu Ihnen emporgerissen habe, in eine Luft, die das Klima meiner Seele ist, und weil mein Intellekt größer ist als der Ihre, aber im Körper eines Knechts; weil ich für jeden Entschluß mehr gleichwertige Möglichkeiten sehe, weil ich nicht jemand in mir blind wählen lasse, sondern erwäge, und mittlerweile überwältigt werde. Und warum lasse ich mich überwältigen? Weil ich für Entschlüsse und Taten so leicht ein Lächeln habe, ein geringschätziges, bitte ich; weil diese Leute von pompöser Tatkraft und kurzem Geiste in ihrer Einfalt grotesk wirken … Sie haben mehr Kraft und mehr Erfolg – aber seit wann bedeuten diese beiden etwas im Reiche des Geistes? Ach nein, kleine Claudia, wenn Sie auch über mich siegen und lächeln: ich bin der höhere Typus, der schwächere, verfeinerte, geistigere – und was Ihrer Klasse Macht über mich gibt, was diesen Götz über uns Weislingen triumphieren läßt, das ist bloße Physis, nichts als Körper, nur Natur!« – Aber diese böse und hochmütige Aufwallung ebbte im Fortschreiten des Mahles; und während er ihren Händen zusah, die flink und anmutig für ihn sorgten, löste sich der Krampf seiner zu Einsamkeit verurteilten Seele in ruhige Wehmut; nichts blieb davon als ein trauernder und sanfter Blick hinter den scharfen Brillengläsern. Er würde es bald nicht mehr so gut haben. Vielleicht war dies das letzte Mal – und ihn schauderte vor seinen leeren Zimmern, in denen er einst seine Zuflucht zu sehen pflegte. Sie hießen Verbannung.

      Während sie aßen, waren anfangs nur wenig Worte hin und her gegangen, ein Scherz, eine Bitte um Brot, eine Aufforderung sich zu bedienen. Aber nach der Stillung des ersten Hungers entfaltete sich das Gespräch persönlicher. Claudia beschloß, jetzt das herbeizuführen, was sie vorhin vermieden hatte. Indem sie aus dem Aufschnitt wählte, der auf einer Platte lag, besann sie sich: »Sie erzählten vorhin, auf wie merkwürdige Art Sie endlich doch in meine Loge kamen. Kommt Ihnen das öfters vor, dieses … Schwanken, oder haben Sie es als etwas Ungewöhnliches behalten?« Er seufzte leicht: »Ach, Fräulein Claudia, solche absurde Überwältigungen meiner selbst berechne ich nicht mehr. Es lohnt nicht der Mühe. Habe ich Ihnen die Geschichte erzählt, wie ich einmal ein Postpaket von Freiburg abschickte?« Er erschrak über die Worte, die soeben, im Augenblick vorher noch ungewußt, über seine Lippen rollten, und erstaunte. Wie kam jetzt diese alte beschämende und vergessene Sache zu ihm? War diese Eingebung die Frucht eines Suchens, das unterhalb des Bewußtseins fortgestöbert hatte und ihm jetzt reif und fertig ein passendes Beispiel zuwarf, das ihn lächerlich zeigte? Aber mit düsterem Frohlocken begrüßte er sie. Woher auch immer sie kam, gerade jetzt, sie war willkommen, sie kam gut; an ihr würde sie ihn erkennen und alles würde zu Ende sein.

      »Niemals; also erzählen Sie. Ist sie nett? – Nehmen Sie Tee oder Bier?« Was beabsichtigte er mit diesem Postpaket? Sie konnte sich täuschen, aber irgendeine Spannung und Erregung schien den ganzen Abend aus seinem Wesen zu quellen. Sie wollte doch zusehen; ihr war so wohl zumute in seiner Anwesenheit, und so sollte auch er sich nicht nutzlos quälen.

      »Tee, bitte; mittel; so, danke sehr. Sie ist sehr spaßig und sehr langweilig, diese Geschichte, außerdem kann ich gar nicht erzählen, aber ich erzähle sie doch. Ich bin überzeugt davon, daß Sie nachher nichts mehr werden von mir hören wollen.« Mit schmerzlicher Wollust genoß er den Doppelsinn, von dem sie ohne Ahnung sein mußte.

      »Lassen wir es darauf ankommen, Doktor,« sagte sie fröhlich. Wie klein und bleich ihre Hände waren! Sie trug keinen Ring. Und diese sollte er verlieren! Überwältigendes Mitleid mit sich drohte seinen Entschluß aufzulösen, aber er zwang es hinab, und es schwand. Er fühlte sich von Notwendigkeit gedrängt und begann tapfer:

      »Also, ich lebte in Freiburg, eine gewisse Zeit lang. Es regnete viel, dann wollte ich wieder fort. Ich packte alle meine Sachen in Koffer und in Kisten für die Frachtbeförderung durch eine vertrauenerweckende Gesellschaft, deren Inhaber die Herren Säbelberger & Cie. waren und Haftpflicht ausübten.« Er schwieg, weil er sah, wie sie die Lippen leise auseinander tat, um etwas zu sagen, und schwieg gern.

      »Hatten Sie damals schon Ihre vielen Bücher?« Ihre Finger machten sich daran, ein Ei abzuschälen, und schufen aus diesem winzigen Vorgang ein Spiel, anmutig wie ein Tanz von Kindern – man durfte nichts tun, als ihnen zusehen … Er schreckte auf und antwortete:

      »Wie hätte ich es sonst wohl aushalten können, glauben Sie? Übrigens ist es gar nicht lange her. Die Bücher lagen in einer großen Kiste, gut verpackt, das können Sie sich denken. Aber es ließen sich nicht alle darin unterbringen, und als ich mir überlegte, daß diese Kiste sehr lange brauchen könnte, ehe sie mir hierher geschickt werden würde, wählte ich die Bücher, die ich am nötigsten hatte, weil sie mir die liebsten waren, und machte aus ihnen ein Paket, ein gutes Postpaket, fest aus Pappe und Schnur hergestellt. Darin lag nun beisammen die Kritik der reinen Vernunft in einem großen Lederbande, eine Schopenhauer-Erstausgabe, die Meditationes von 1650, ein denkwürdiger Pergamentband,« – er lächelte ein wenig – »Sie wissen, Descartes; drei oder vier alte französische Drucke des Montaigne und Konsorten, einige schöne englische Shakespearebände und dergleichen. Lauter gute wertvolle Bücher.« Wie wäre es, wenn er jetzt noch innehielt, ablenkte, aufhörte, ehe es zu spät war? Nein, feig wäre es.

      »War der Larochefoucauld dabei, den Sie mir geborgt haben?«

      »Auch, ja. Also ich nahm das Paket unter den Arm (es schien recht schwer) und begab mich damit auf die Post, Samstag nachmittags. Der Beamte hatte zwar rote schmutzige Hände, aber ein gutes Herz, denn er wog das Volumen mitleidig und riet mir, es doch lieber leichter zu machen, denn es wöge fünfundzwanzig Pfund, und das würde mich einen schönen Batzen Geld kosten. Oder er empfahl mir die Eilfracht. Also empfing ich das Paket wieder aus seinen Händen zurück, dankte ihm und begab mich damit zur Eilfracht.«

      »Sie befolgten den unerbetenen Rat?« Ihre Frage klang beinahe träumerisch, denn sie sagte sich unterdessen: wenn er mit seinen lieben Büchern so sorglich umging – wie gut würde es erst eine … ein geliebter Mensch in seiner Nähe haben … und sie errötete verwirrt.

      »Den zweiten, ja. Ich wußte nun, daß ich fünfundzwanzig Pfund trug, das machte das Tragen schwerer. Die Eilfracht wohnte zwölf Minuten von der Post entfernt, auf dem Bahnhof. Man empfing mich dort ziemlich hastig, denn

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