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Über Toleranz. Voltaire
Читать онлайн.Название Über Toleranz
Год выпуска 0
isbn 9783159618135
Автор произведения Voltaire
Жанр Документальная литература
Серия Reclams Universal-Bibliothek
Издательство Bookwire
Wie und warum Toleranz gewährt werden sollte
Ich wage mir vorzustellen, dass ein aufgeklärter und edelmütiger Minister, ein menschlicher und weiser Prälat, ein Fürst, der weiß, dass es seinem Interesse entspricht, möglichst viele Untertanen zu haben, und sein Ruhm in deren Glück besteht, so gut ist und einen Blick auf diese unzulänglich gearbeitete und mangelhafte Schrift wirft; dann ersetzt er deren Defizite mit seinen eigenen Ideen und fragt sich: Was riskiere ich eigentlich, wenn das Land durch eine zusätzliche Zahl fleißiger Hände bestellt und verschönert wird, die Einkünfte steigen und der Staat noch mehr erblüht?
Deutschland wäre eine Wüstenei, bedeckt mit den Gebeinen von Katholiken, Protestanten, Reformierten, Anabaptisten, die einander ausgelöscht hätten, wenn nicht der Westfälische Frieden endlich die Gewissensfreiheit beschert hätte.
Wir haben Juden in Bordeaux, in Metz, im Elsass; wir haben Lutheraner, Molinisten, Jansenisten. Können wir nicht die Calvinisten zu ungefähr den gleichen Bedingungen dulden und im Zaum halten, wie die Katholiken in London toleriert werden? Je mehr Sekten es gibt, je weniger gefährlich ist jede einzelne. Ihre Vielfalt schwächt sie. Alle disziplinieren gerechte Gesetze, die tumultuöse Versammlungen, Beschimpfungen und Aufstände verbieten und die von der Exekutivgewalt durchgesetzt werden.
Wir wissen, dass mehrere Familienväter, die im Ausland große Vermögen angehäuft haben, bereit sind, in ihre [36]Heimat zurückzukehren; sie verlangen nicht mehr als den Schutz des Naturrechts, die Gültigkeit ihrer Ehen, Garantie des Standes ihrer Kinder, das Recht, ihre Väter zu beerben, und die Freiheit ihrer Person. Sie fordern keine öffentlichen Gotteshäuser, kein Recht auf städtische Ämter oder Würden – all dies haben die Katholiken in vielen Ländern ja auch nicht, so in England. Es geht nicht mehr darum, einer Partei üppige Privilegien und sichere Posten zu geben, sondern ein friedliches Volk schlicht leben zu lassen, Edikte zu mildern, die vielleicht einmal notwendig waren, dies jetzt aber nicht mehr sind. Es steht uns nicht zu, dem Minister zu bedeuten, was er tun kann; wir flehen lediglich um Hilfe für die Unglücklichen.
Wie viele Mittel gibt es doch, sie uns nützlich zu machen und zu verhindern, dass sie je gefährlich werden! Die Klugheit des Ministers und des Staatsrats, gestützt auf Macht, werden ganz leicht jene Mittel finden, die andere Nationen bereits so erfolgreich anwenden.
Es gibt noch Fanatiker im calvinistischen Pöbel, aber mehr davon zweifelsohne im Pöbel der Konvulsionäre. Der Abschaum der Wahnsinnigen von Saint-Médard genießt keinerlei Achtung im Volke; das Gesindel der calvinistischen Propheten ist vernichtend geschlagen. Das große Mittel, die Zahl der Besessenen, sofern noch welche da sind, zu verringern, ist, die Heilung dieser Krankheit der Vernunft zu überlassen: Sie erleuchtet die Menschen langsam, aber sicher. Diese Vernunft ist sanft, sie ist human, sie macht milde, sie erstickt die Zwietracht, sie festigt die Tugend, sie macht, dass den Gesetzen gern gehorcht wird, was diese mehr stärkt als die Gewalt, die sie stützt. Und ist es etwa nichts, dass heutzutage alle Menschen lauteren Sinnes der Schwärmerei [37]den Makel der Lächerlichkeit anheften? Diese Lächerlichkeit ist eine wirkmächtige Barriere gegen die Überdrehtheiten aller Sektierer. Die vergangenen Zeiten sind, als wären sie nie gewesen. Man muss immer ausgehen von dem Punkt, an dem man ist und von dem, den die Nationen erreicht haben.
Es gab eine Zeit, da man glaubte, gerichtlich einschreiten zu müssen, wenn jemand eine Lehre vertrat, die den Kategorien des Aristoteles, dem horror vacui, den Quidditäten oder dem Verhältnis zwischen Universalität und Partikularität zuwiderliefen. Wir haben in Europa mehr als hundert juristische Bände über die Hexerei und über die Methoden, falsche Hexen von echten zu unterscheiden. Die Exkommunikation von Heuschrecken und anderer der Ernte schädlicher Insekten war allgemein üblich; der Brauch besteht in manchen Ritualen fort; allgemein üblich aber ist er nicht mehr. Jetzt lässt man Aristoteles, die Hexen und die Heuschrecken zufrieden. Beispiele für solche schwerwiegenden und einstmals so bedeutsamen Unsinnigkeiten gibt es jede Menge; manchmal kommen neue auf, aber wenn sie eine Weile gewirkt haben und man ihrer überdrüssig ist, verschwinden sie wieder. Würde es heute jemandem einfallen zu sagen, er sei Karpokratianer oder Eutychianer, Monothelit, Monophysit, Nestorianer oder Manichäer etc. – ja, was geschähe dann? Man würde über ihn lachen wie über einen, der sich nach alter Mode mit Halskrause und Steppwams kleidete.
Die Nation begann schon so ganz allmählich die Augen zu öffnen, als die Jesuiten Le Tellier und Doucin die Bulle Unigenitus fabrizierten und nach Rom schickten. Sie glaubten, es herrschten noch jene Zeiten der Ignoranz, da die Völker ohne Prüfung die absurdesten Behauptungen akzeptierten. Sie wagten es, einen Satz zu verurteilen, der in allen Fällen [38]und zu allen Zeiten eine allgemein gültige Wahrheit war und ist: »Die Furcht vor ungerechter Exkommunikation darf niemanden daran hindern, seine Pflicht zu tun.« Indem sie so schrieben, verurteilten sie die Vernunft, die Freiheit der gallikanischen Kirche; indem sie so schrieben, sagten sie den Leuten: »Gott befiehlt euch, nie eure Pflicht zu tun, sobald ihr Ungerechtigkeit fürchtet.« Man hat wohl den gesunden Menschenverstand nie unverfrorener vor den Kopf gestoßen. Die Berater Roms achteten darauf nicht. Man redete der römischen Kurie ein, dass diese Bulle notwendig sei und die Nation sie auch erwarte; sie wurde unterzeichnet, besiegelt und versandt – die Folgen sind bekannt; wären diese vorausgesehen worden, hätte man die Bulle gemäßigt. Die Zwistigkeiten waren heftig; erst Klugheit und Güte des Königs haben sie am Ende geschlichtet.
Ebenso verhält es sich mit einem großen Teil der Punkte, die uns von den Protestanten scheiden. Ein paar davon haben keinerlei praktische Folgen; andere sind gravierender, aber der Furor um sie hat sich doch sehr gedämpft; immerhin halten die Protestanten jetzt keine Kontroverspredigten mehr in ihren Kirchen.
Wir erleben also eine Zeit des Abscheus, der Übersättigung oder vielmehr der Vernunft; man kann sie begreifen als eine Epoche und als Unterpfand des öffentlichen Friedens. Religionszwist ist eine epidemische Krankheit, die sich im Abklingen befindet; die Pest, von der wir geheilt sind, erfordert nur noch eine sanfte Therapie. Es liegt doch im Interesse des Staates, dass seine expatriierten Kinder in das Haus ihres Vaters zurückkehren; die Menschlichkeit verlangt es, die Vernunft rät es, und die Politik braucht sich nicht davor zu fürchten.
[39]Kapitel VI
Verträgt sich Intoleranz mit Natur- und Menschenrecht?
Das Naturrecht ist das Recht, das die Natur allen Menschen zuteilt und vorgibt. Hat einer sein Kind erzogen, schuldet es ihm Respekt als seinem Vater und Dankbarkeit als seinem Wohltäter. Hat einer mit den eigenen Händen einen Boden bearbeitet, besitzt er das Recht auf dessen Produkte. Hat einer ein Versprechen gegeben oder bekommen, muss es gehalten werden.
Das Menschenrecht kann keinesfalls auf etwas anderem fußen als auf diesem Naturrecht, und das große Prinzip, das universelle Prinzip, das sich aus beiden ableitet, lautet auf der ganzen Welt: »Was man dir nicht tun soll, das tue du auch anderen nicht.« Legt man dieses Prinzip zugrunde, ist nun nicht einzusehen, wie ein Mensch zu einem anderen sagen kann: »Glaube, was ich glaube, und das, was du nicht glaubst, oder du bist des Todes.« So sagt man aber in Portugal, in Spanien, in Goa. In ein paar anderen Ländern begnügt man sich zu sagen: »Glaube, oder ich verabscheue dich. Glaube, oder ich tue dir Übles, so viel ich nur kann. Ungeheuer, du hast nicht meine Religion, du hast also gar keine Religion. Man muss sorgen, dass du deinen Nachbarn, deiner Stadt, deiner Provinz ein Gräuel bist.«
Wenn es sich mit dem Menschenrecht vertrüge, sich so zu verhalten, könnte keiner die Japaner daran hindern, die Chinesen zu verachten, die wiederum die Siamesen hassten; diese würden die Gangariden verfolgen, die ihrerseits über die Bewohner der Indus-Ufer herfielen; ein Mongole [40]würde dem ersten Malabaren, dem er begegnete, das Herz herausreißen; der Malabarer dürfte den Perser umbringen, dieser den Türken massakrieren, und alle zusammen stürzten sich auf die Christen, die sich so lange untereinander zerfleischt haben.
Das Recht auf Intoleranz ist also absurd und barbarisch; es ist das Recht der Tiger. Ja, die Sache ist noch grauenvoller, denn die Tiger zerreißen nur, um satt zu werden, und wir haben uns ausradiert wegen Paragraphen.
[41]Kapitel