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Über Toleranz. Voltaire
Читать онлайн.Название Über Toleranz
Год выпуска 0
isbn 9783159618135
Автор произведения Voltaire
Жанр Документальная литература
Серия Reclams Universal-Bibliothek
Издательство Bookwire
Wir selbst haben in Frankreich eine wohlhabende Provinz, in der das Lutheranertum stärker ist als der Katholizismus. Die Universität des Elsass ist in den Händen der Lutheraner; sie besetzen einen Teil der städtischen Ämter. Niemals hat der kleinste Religionszwist die Ruhe dieser Provinz gestört, seit sie unseren Königen gehört. Warum? Man hat dort niemanden verfolgt. Trachtet nicht, die Herzen zu bedrängen, und alle Herzen werden euer sein.
Ich will gar nicht sagen, dass diejenigen, die anderer Religion sind als der Landesfürst, sich die Ämter und Ehrenposten mit jenen teilen sollen, die der herrschenden Religion angehören. In England können Katholiken nicht in den höheren öffentlichen Dienst gelangen; sie zahlen sogar die doppelte Steuer; ansonsten aber genießen sie alle Bürgerrechte.
Man hat einige französische Bischöfe verdächtigt, sie vermeinten, es gereiche ihnen weder zur Ehre noch zum Vorteil, in ihrer Diözese Calvinisten zu haben, und darin, wurde behauptet, liege das größte Hindernis für die Toleranz. Ich kann das nicht glauben. Das Corps der Bischöfe in Frankreich besteht aus Männern von Stand, und sie denken und handeln mit der Noblesse, die ihrer hohen Geburt würdig ist; sie sind mildtätig und großherzig; dies muss man ihnen gerechtigkeitshalber attestieren. Sie sollten eben nur einsehen, dass geflüchtete Andersgläubige im Ausland bestimmt nicht zum Katholizismus konvertieren werden; wenn sie aber zu ihren Pastoren zurückkehren dürfen, könnten sie durch deren Lehren erleuchtet und [31]durch deren Beispiel beeindruckt werden. Sie zu konvertieren wäre eine Ehre, die Temporalien würden darunter nicht leiden: je mehr Bürger, desto mehr Einnahmen für die Prälaten, denen die Grundstücke gehören.
Ein Bischof von Ermland in Polen hatte einen Anabaptisten als Pächter und einen Sozinianer als Einnehmer; man legte ihm nahe, beide hinauszuwerfen und zu verfolgen – den einen, weil er nicht an die Konsubstantialität glaubte, den anderen, weil er seinen Sohn erst mit fünfzehn taufen ließ. Der Bischof antwortete, in der anderen Welt seien die zwei auf ewig verdammt; in dieser jedoch brauche er sie dringend.
Verlassen wir einmal unsere eigene kleine Sphäre und betrachten den restlichen Teil unseres Erdenballs. Der türkische Großherr regiert friedlich über zwanzig Völker verschiedener Religionen; zweihunderttausend Griechen leben sicher in Konstantinopel; der Mufti selbst ernennt den griechischen Patriarchen und stellt ihn dem Kaiser vor; man duldet auch einen lateinischen Patriarchen. Der Sultan ernennt die lateinischen Bischöfe einiger griechischer Inseln11, und zwar mit der Formel: »Ich befehle ihn zum Bischof der Insel Chios, wo er handeln möge nach den alten Gebräuchen der Bewohner und ihrer eitlen Zeremonien.« Das Reich ist angefüllt mit zahllosen Konfessionen, so mit Jakobiten, Nestorianern, Monotheleten; daneben gibt es Kopten, Johanneschristen, Juden, Guebern, Banianen. Die türkischen Annalen verzeichnen keine Revolte, die eine dieser Religionen angestachelt hätte.
Oder geht nach Indien, nach Persien, in die Tatarei; dort findet ihr die gleiche Toleranz und die gleichen ruhigen Verhältnisse. Peter der Große ist allen Konfessionen in [32]seinem riesigen Reich freundlich begegnet; Handel und Ackerbau haben davon profitiert, und der Staat hat keinen Augenblick dadurch Schaden genommen.
Die Regierung von China hat während der mehr als viertausend Jahre, über die wir Informationen besitzen, keine andere Religion gehabt als die der Noachiden, die schlichte Anbetung eines einzigen Gottes. Sie duldet jedoch den Aberglauben des Fo (oder Buddha) und den einer Vielzahl von Bonzen, die gefährlich werden könnten, wenn die Weisheit der Gerichte nicht stets Kontrolle über sie hielte.
Zugegeben, der große Kaiser Yong Zheng, vielleicht der weiseste und großmütigste Herrscher, der China jemals regierte, hat die Jesuiten vertrieben; aber dies geschah nicht, weil er intolerant gewesen wäre, sondern ganz im Gegenteil die Jesuiten es waren. Sie geben in ihren Neugierigen Briefen selbst die Worte wieder, die der gute Fürst zu ihnen sagte: »Ich weiß, dass eure Religion intolerant ist. Ich weiß, was ihr auf den Philippinen und in Japan tatet. Ihr habt meinen Vater betrogen; hoffet nicht, auch mich zu betrügen.« Wenn man die ganze Rede liest, die er an die Jesuiten richtete, muss man ihn für einen äußerst weisen und gutmütigen Menschen halten. Konnte er denn europäische Physiker bei sich belassen, die unter dem Vorwand, dem Hofe Thermometer und Dampfturbinen zu zeigen, schon einen blutsverwandten Prinzen zur Auflehnung angestachelt hatten? Und was hätte dieser Kaiser wohl gesagt, wenn er von unserer weiteren Geschichte gelesen, wenn er unsere Zeiten der Liga und der Pulververschwörung gekannt hätte?
Es wusste schon genug, wenn er von den ungehörigen Streitereien zwischen Jesuiten, Dominikanern, [33]Kapuzinern und Säkularpriestern hörte, die vom anderen Ende der Welt in seine Länder gesandt wurden; sie kamen, um die Wahrheit zu predigen, und anathematisierten einander. Der Kaiser tat also nicht mehr, als fremde Unruhestifter heimzuschicken; aber mit welcher Güte schickte er sie heim! Welche Sorge trug er nicht um ihre Reise, wie bedachtsam stellte er sicher, dass sie unterwegs nicht beschimpft wurden! Noch ihre Verbannung selbst war ein Beispiel von Toleranz und Menschlichkeit.
Die Japaner12 waren die tolerantesten aller Völker; zwölf Religionen hatten sich friedlich in ihrem Reich eingerichtet. Als die Jesuiten kamen, waren sie die dreizehnte. Aber sie wollten keine andere neben sich dulden, und das Ergebnis kennt man: Ein Bürgerkrieg, nicht weniger grässlich als der Krieg der Liga, verheerte jenes Land. Am Ende wurde die christliche Religion in Strömen von Blut ertränkt. Die Japaner verschlossen ihr Reich dem Rest der Welt; sie sahen in uns nur noch wilde Bestien, ähnlich jenen, von denen die Engländer ihre Insel gesäubert haben. Vergebens versuchte Minister Colbert, der wusste, dass wir die Japaner brauchen, die uns aber keineswegs brauchen, neue Handelsbeziehungen mit ihrem Reich aufzubauen; sie ließen sich von ihm nicht dazu bewegen.
So beweist unser ganzer Kontinent, dass man Intoleranz weder androhen noch ausüben soll.
Richten wir nun die Augen auf die andere Hemisphäre. Schauen wir nach Carolina, dessen Gesetzgeber der weise John Locke war. Nur sieben Familienväter waren dort nötig, um einen öffentlichen Kult zu etablieren, den das Gesetz genehmigte – eine Freiheit, die keinerlei Unordnung gestiftet hat. Wenn wir dieses Beispiel zitieren, dann aber [34]nicht, um Frankreich zur Nachahmung zu ermuntern – da sei Gott davor! Wir haben es nur angeführt, um zu verdeutlichen, dass selbst eine exzessive Duldsamkeit, die so weit ging, wie Toleranz nur irgend gehen kann, nicht zu der leisesten Zwistigkeit geführt hat. Aber was für eine entstehende Kolonie sehr nützlich und sehr gut ist, eignet sich nicht für ein altes Königreich.
Was sollen wir über die Primitives sagen, denen man den Spottnamen Quakers gegeben hat? Ihre Gebräuche mochten lächerlich wirken, aber sie waren stets so tugendhaft und haben vergebens versucht, dem Rest der Menschheit den Frieden zu lehren. In Pennsylvania zählen sie hunderttausend; Zänkerei und Zwietracht kennt man nicht in dem glücklichen Vaterlande, das sie sich errichtet haben; und allein der Name ihrer Stadt Philadelphia erinnert die Menschen ständig daran, dass sie Brüder sind. Diese Leute gereichen den Völkern, die von Toleranz noch nichts wissen, zum Vorbild und zur Beschämung.
Die Toleranz hat, kurz gesagt, nie einen Bürgerkrieg ausgelöst; die Intoleranz hat die Erde mit Metzelei überzogen. Nun richtet zwischen den folgenden beiden Rivalinnen: der Mutter, die will, dass man ihren Sohn tötet, und der Mutter, die ihn loslässt, wenn sie damit erreicht, dass er lebt!
Ich rede hier nur vom Interesse der Völker; mit allem gebührenden Respekt vor der Theologie beziehe ich mich in dieser Schrift nur auf das physische und moralische Wohl der Gesellschaft. Ich bitte jeden unparteiischen Leser, diese Wahrheiten abzuwägen, zu berichtigen und zu erweitern. Aufmerksame