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blieb stehen, um sie zu begrüssen, so äusserst kühl sie sonst seit diesem Sommer auch gegen die junge Frau war, und war ganz Neugier: „Also auch Sie weg, Frau Ansold? Na ja — unsere Manöverwitwen heutzutage — das fliegt nur so in alle Winde! ... Ich wollt’, ich könnt’ es auch. ... Wohin geht denn die Reise, Frau Ansold?“

      „Nach Berlin.“

      „Ach ... Ihren Vater besuchen ... er lebt doch noch in Berlin — der alte Herr — nicht wahr?“

      „Jawohl ...“

      „Und auch Ihre Geschwister?“

      „Ein verheirateter Bruder, im sechsten Garderegiment.“

      Die Kommandeuse nickte zustimmend bei Erwähnung der Garde. Das Gesicht der kleinen, spitzen Dame bekam einen achtungsvollen Ausdruck. Die Freiherren von Dolmar waren doch eine schöne alte Familie, wenn sie auch seit Generationen kein Geld mehr hatten. Und Frau Ansolds Vater Generalmajor z. D. Warum gab nun sie gerade das schlechte Beispiel im Regiment ...? Wie oft hatte sie, die Gattin des Obersten, diesen Sommer, als das Gerede über Jakobe Ansold aufkam, mit ihrem Mann über das alles, und was wohl an der Sache wahr sei und was nicht, gesprochen, und ob man den Hauptmann Ansold — den einzigen natürlich wieder im ganzen Städtchen, der von nichts wisse, zur Versetzung eingeben oder lieber vorerst kein grosses Aufhebens machen und zuwarten sollte, ob sich die Sache nicht von selber im Sande verlaufe. So war es denn auch geschehen und schien das richtige gewesen zu sein. Soweit man sehen konnte, war wenigstens alles glücklich vorüber und die Lästermäuler verstummt, aber ein gewisses Misstrauen lag doch noch in der Stimme der Frau Oberst, während sie sich liebenswürdig von Jakobe verabschiedete: „Also empfehlen Sie uns bitte bestens Ihrem Herrn Vater und fragen Sie ihn, ob er sich nicht aus Danzig, vor zwanzig Jahren, an uns erinnert!“

      Das sagte sie jedesmal bei dieser Gelegenheit, und der alte Herr wusste sich nie der Bekanntschaft zu entsinnen und setzte hinzu, es sei ihm auch ganz gleich. Die beiden Damen reichten sich die Hand, und Jakobe Ansold verbeugte sich zum letztenmal vor ihrer Vorgesetzten und legte den Rest des Weges bis zum Bahnhof zurück und stieg dort, Musketier und Mädchen entlassend, in den Zug und war, als der sich bald darauf in Bewegung setzte, in einer sonderbar teilnahmlosen Stimmung, die tiefe Erschöpfung und der Rückschlag nach der Erschütterung der letzten vier Monate war.

      Und draussen, vor den Wagenfenstern, entschwand langsam und immer schneller im Rollen des Zuges die Stadt. Die Giebel, die Mauern, die Kasernen, die Gärten vor den Toren — da war die weite Fläche des Sees, drüben am anderen Ufer von einförmigen, schwarzen Föhrenwänden eingerahmt — nun grüsste nur noch der alte Kirchtum von St. Peter aus der Ferne — das flache Land begann — weitgestreckte, abgeerntete Roggenfelder, Kartoffeläcker mit reihenweise gebückten Buddlern, Männer, Frauen und Kinder, den berittenen Inspektor wie einen Sklavenvogt hinter sich, scheu äugendes Rehwild in Rudeln am Rand der Forst, dazwischen einmal, mehr zurück, ein Herrensitz im Park, vom Schornstein der Brennerei überragt, die langen flachen Dächer des Wirtschaftshofs neben sich. Und schon tauchten, nach kaum dreistündiger Fahrt, die ersten, noch mitten im Ackerland stehenden vierstöckigen Mietskasernen als Wahrzeichen der Nähe der Reichshauptstadt auf, und bald darauf war Jakobe Ansold am Endpunkt einer Reise, die so kurz und doch die Wende ihres ganzen Lebens gewesen, und fuhr in einer Droschke durch die halbe Stadt, vom Osten bis in den stillen Südwesten, wo in den Hintergebäuden eines älteren, aber stattlichen Wohnhauses die Kritzingsche Schule war.

      Es ging auf Mittag. Vor dem Portal harrte schon eine ganze Anzahl von Müttern, Kinderfräulein, Offiziersburschen und älteren Geschwistern ihrer Schutzbefohlenen da drinnen, und gerade, als Jakobe Ansold das Haus betreten wollte, quoll es ihr wimmelnd und schwatzend und lachend und krabbelnd in allen Altersstufen vom siebten bis zum sechzehnten Jahre entgegen, und füllte die Stufen und den Eingang, und sie musste ein paar Minuten warten, bis sie in den Flur gelangen und im Vorderhaus zu der kleinen, drei Treppen hoch belegenen Privatwohnung des Fräuleins von Kritzing emporsteigen konnte. Die war bereits daheim. In dem etwas altmodischen, mit einer Menge eingerahmter Photographien von Marineoffizieren und früheren Schülerinnen der Anstalt geschmückten Stübchen, in das das öffnende Mädchen die junge Frau geführt, kam sie dieser rasch entgegen, gab ihr statt vieler Begrüssungsworte einen schallenden Kuss und sagte dann nach ihrer resoluten Art und ohne weitere Umschweife: „Na — da bist du ja also! Nu wasch dich mal fix! Dann wollen wir essen!“

      Sie war ein kleines, rundliches und lebhaftes Fräulein in den Sechzigern, das blühende, pausbäckige und stets heitere Gesicht von schon ganz weissem Haar umrahmt, das ihr etwas Mütterliches gab. Sie und Jakobe nannten sich du — die alte Dame noch aus Gewohnheit aus der Zeit her, da die andere als Backfisch zu ihr in die Schule gegangen war, die junge Frau, seit sie durch die Heirat ihres ältesten, in Breslau stehenden Bruders mit einer Kritzing, einer Nichte der Schulvorsteherin, vor einigen Jahren mit dieser verwandt geworden war, die ihrerseits die Tochter eines verstorbenen Vizeadmirals war und durch besondere Fürsprache schon vor einem Vierteljahrhundert ihre lohnende Schulkonzession erhalten hatte.

      „Da bist du ja also!“ wiederholte Fräulein von Kritzing und sah ihrem Gast befriedigt in das schöne, ernste Gesicht. „Und in Schwarz? Und was machst du denn für eine Miene wie ein Leichenbitter? Es ist doch niemand gestorben?“

      „Nein, Tante! ... Ich ...“

      „Na ... solange man lebt, geht’s immer weiter!“ sagte das alte Fräulein unbekümmert. Sie war längst über Kämpfe und Versuchungen hinaus. Ihre Jugendliebe, wegen der sie unvermählt geblieben, ruhte auch schon viele Jahre im Grab. „Was hast du denn in Berlin vor? Besorgungen? Deinen Vater habe ich vorige Woche gesehen ...: Bummelzivil — Hütchen schief — Stöckchen in der Hand ... da tänzelt er nur so die Linden lang ... der Mann wird wahrhaftig alle Tage jünger! Ich habe ihm auch gesagt: Wenn so ein preussischer General ausschaut ... aber er feixt nur und schlägt sich weiter seine Siebzig um die Ohren! Na ... und bei Axels“ — sie meinte Jakobes jüngsten Bruder, den Leutnant im sechsten Garderegiment — „steht’s ja so weit gut! Weisst du das Neueste von der Anna: Sie hat den Hofkoller! Sie muss diesen Winter vorgestellt werden! Sie hat sich jetzt schon photographieren lassen, in einer Courschleppe — na, von hier bis Potsdam, das langt noch nicht! Da ist nun das ganze Persönchen drin eingewickelt und glubscht oben ’raus, als wollte sie fragen: Was kostet die Welt ...?“

      „Gott ja, Tante ... Ich weiss ja, wie Anna ist ...“

      „Und was sie neulich geliefert hat? Da sagt dein guter alter Vater: ‚Schade, dass wir Ansolds nicht auch hier in Berlin haben!‘ Und sie darauf: ‚Ja, aber für eine bürgerliche Offiziersdame ist es doch manchmal hier recht peinlich!‘ ... Da habe ich ja nun milde gesagt: ‚Weisst du, Jakobe ist eine geborene Dolmar und die Dolmars waren schon mit den Quitzows auf du und du, und du bist eine geborene Huschke. Nimm mir’s nicht übel!‘ Und sie darauf ganz patzig: ‚Deswegen kann ich doch an den Hof und Jakobe nicht!‘ — Na ... ich will ja gewiss nichts gegen den alten Holz-Huschke sagen — aber er ist doch nun einmal der Holz-Huschke ...“

      Sie sprach das voll Empörung über den Vater der jungen Frau von Kritzing, den Kommerzienrat, der als der Inhaber eines weit ausgedehnten Holzhandels im ganzen Osten der Monarchie bekannt war. Dann stockte plötzlich ihr Redefluss: „Nun aber mal Schluss! Ich schwätze und schwätze! Erzähle was von dir! Wie geht es dir? Was bringst du Gutes?“

      Und nun konnte die junge Frau erst zu Worte kommen und versetzte ruhig: „Ich bringe nichts Gutes, Tante ... Ich bringe mich ...“

      Fräulein von Kritzing hob den Kopf und sah sie aufmerksam an. Die heitere Geschäftigkeit verschwand plötzlich aus ihren Zügen. Sie wurde sehr ernst. So frug sie: „Um Gottes willen ... Was ist denn passiert, Jakobe?“

      „Es ist weiter gar nichts passiert — und wird auch nichts passieren — nicht das geringste ... dafür stehe ich dir! ... Nur ...“

      „Nun also — warum jagst du einem dann solch einen Schrecken ein?“

      „Nur ... Leopold weiss gar nicht, dass ich nach Berlin gefahren bin ...“

      „Mit wildem Urlaub ...? Sieh mal an! Und sitzt da und tut, als könne sie nicht bis drei zählen! Na — beruhige

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