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sind auch die Hypothesen begründungsbedürftig – als Existenzannahmen naheliegenderweise im Rahmen der ersten Philosophie oder Ontologie. Beispielsweise ist es Aufgabe der Ontologie zu zeigen, ob und in welchem Sinne fundamentale geometrische Gegenstände oder lebende Organismen existieren (Metaph. XIII).

      Und schließlich benutzen wir zum Aufbau einer Theorie logische Regeln, gelegentlich auch mathematische Formeln. Diese Voraussetzungen sind im Gegensatz zu Definitionen und Hypothesen nicht spezifisch für bestimmte Wissenschaften oder Theorien, sondern kommen gleichermaßen in allen Wissenschaften vor. Prinzipien dieser dritten Art nennt Aristoteles Postulate (griechisch Axiome). Ihre Begründung erfolgt im Rahmen der formalen Logik und Mathematik.

      Von allen drei Prinzipienarten lässt sich also sagen, dass sie zwar nicht demonstrierbar und in diesem strengen [40]Sinne nicht erklärbar sind, dass sie aber in einem weniger strengen Sinne nicht nur begründbar, sondern sogar begründungsbedürftig sind. Von einem unmittelbaren Erfassen der Prinzipien kann im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftstheorie nicht die Rede sein.

      Aristoteles war zweifellos davon überzeugt, dass es selbst für endliche menschliche Wesen prinzipiell möglich ist, die Wahrheit und oberste Prinzipien zu erfassen; in diesem Sinne war er kein Skeptiker. Zugleich betont er jedoch, dass es schwierig ist zu wissen, ob wir etwas wirklich wissen (APo. I 9). Tatsächlich vertritt er die Auffassung, dass endliche menschliche Wesen in ihrem ehrlichen Bemühen um Wissen in der Regel einer Reihe von Irrtümern ausgesetzt sind und nie endgültig sicher sein können, die Wahrheit ein für alle Mal erfasst zu haben. Im einfachsten Fall können wir induktiv etablierte universelle Sätze der Form AaB nur so lange für wahr halten, wie wir empirisch kein B-Ding entdecken, das nicht A ist. Und wenn wir behaupten, dass eine universelle Prämisse der Form AaB unvermittelt, d. h. nicht weiter deduzierbar oder demonstrierbar ist, dann können wir diese Behauptung nur so lange aufrechterhalten, wie wir empirisch keine Eigenschaft C entdecken derart, dass die universellen Sätze AaC und CaB wahr sind. Sofern wir also nicht allwissend sind und einige Fakten im Kosmos noch nicht kennen – und davon ging Aristoteles mit Sicherheit aus (APo. I 12, 78a) –, können wir nicht ausschließen, dass sich unsere bislang empirisch gut gestützte Behauptung, universelle Sätze seien wahr oder unvermittelt, aufgrund der Entdeckung weiterer Fakten am Ende noch als falsch erweist.

      Aristoteles hat sich auch mit der Logik der Widerlegung [41]universeller Sätze beschäftigt: mit dem Irrtum durch Deduktion (APo. I 16–17). Wenn wir aus zwei Prämissen in logisch korrekter Weise eine Konklusion deduzieren, die sich als falsch erweist, dann, so Aristoteles, können nicht beide Prämissen zugleich wahr sein. In diesem Fall müssen wir zu klären versuchen, welche der beiden Prämissen falsch ist. Tatsächlich verwendet Aristoteles verschiedentlich selbst dieses Widerlegungsverfahren, indem er gegen gewisse Theorien seiner Vorgänger geltend macht, dass aus diesen Theorien falsche Konklusionen logisch korrekt folgen (Cael. III 7, 306a; II 13, 293a; II 14, 297a; Metaph. XII 8, 1073b–1074a). Und er weist auf eine Reihe weiterer Fehlerquellen beim wissenschaftlichen Arbeiten hin, von denen nicht alle leicht zu entdecken sind, beispielsweise auf zirkuläre Demonstrationen (APo. I 3), auf die Etablierung von Definitionen unabhängig von geeigneten Demonstrationen (APo. II 3–7), auf die falsche Meinung, platonische Begriffsteilungen wären logisch gültige Schlüsse (APo. II 5), oder auf die unzutreffende Vorstellung, es gäbe für jedes universelle Faktum genau eine einschrittige Demonstration (APo. II 16–18).

      In den Analytiken findet sich auch die These, dass eine wissenschaftliche Theorie Prinzipien aufstellt, die immer wahr und unvermittelt sind, und dass das, was wahr ist, sich nicht als falsch erweisen kann (APo. I 2, 72a; II 19, 100b). Diese These beschreibt das Ideal einer perfekten wissenschaftliche Theorie. Gerade im Blick auf dieses Ideal können wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wissensansprüche niemals endgültig auszuschließen gestattet. [42]Unsere konkrete epistemische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken strukturiert, die dafür sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprüche möglichst gut begründen und eventuelle Fehler möglichst schnell entdecken können. Die Beschreibung der idealen Wissenschaft ist mit der fallibilistischen Diagnose unserer epistemischen Situation durchaus vereinbar.

      Eine der verblüffendsten Entwicklungen der Aristoteles-Rezeption seit dem Mittelalter ist die axiomatische Lesart seiner Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Dieser verbreiteten Lesart zufolge soll Aristoteles behauptet haben, dass wir uns der Wahrheit der obersten Prinzipien einer Wissenschaft durch das spezifische Vermögen der Einsicht unmittelbar und endgültig versichern und dann alle Theoreme aus den obersten Prinzipien deduktiv ableiten können – so dass sich auf diese Weise auch die Wahrheit aller Theoreme endgültig sichern lässt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Lesart falsch ist. Ihr Fehler besteht darin, nicht zwischen Wissensideal und konkreter epistemischer Situation bei Aristoteles zu unterscheiden und Bemerkungen über das Wissensideal als Aussagen über unsere konkrete epistemische Situation misszuverstehen. Bereits Aristoteles war im weitesten Sinne wissenschaftstheoretischer Fallibilist. Und auch die moderate fallibilistische Einstellung in der Wissenschaftstheorie zählte er zur Bildung – die Wissenschaftstheorie ist so wenig wie Topik oder Logik eine spezielle Wissenschaft. Wir können Aristoteles selbst kaum dafür verantwortlich machen, dass er viele Jahrhunderte lang – vermutlich unter dem Einfluss des christlichen Denkens – fälschlicherweise als epistemologischer Dogmatiker begriffen worden ist. Mit seiner [43]innovativen moderaten Epistemologie und Wissenschaftstheorie hat er entgegen dieser Deutung vielmehr die sokratische Proklamation des Wissens unseres Nichtwissens mitsamt ihrer argumentativen Technik im logischen Raum der Gründe (und damit im Raum der Bildung) auf theoretisch brillante und nachhaltige Weise umgesetzt. Seine wissenschaftstheoretische Position lässt sich am besten als nicht-fundamentalistischer logischer (genauer: syllogistischer) Empirismus kennzeichnen.

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