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und Widerlegungen von Thesen entwickeln, Fehler aufzählen, die ein Proponent oder Opponent machen kann, und argumentative Schachzüge vorschlagen, die vor allem der Opponent benutzen kann, um den Proponenten möglichst lange über die Stoßrichtung der Widerlegung im Unklaren zu lassen. Die Arten dieser Richtlinien, Fehler und Schachzüge heißen »Örter« (Topoi), daher der Name »Topik«, Lehre von den Örtern.

      Bevor Aristoteles die formalen »Örter« bestimmt, trifft er einige terminologische Bestimmungen über die Technik der Unterredung. Allgemeine Aufgabe der Topik ist es, eine Methode zur Bildung von wahrscheinlichen Schlüssen und zur widerspruchsfreien Diskussion von beliebigen vorgelegten Problemen und Thesen bereitzustellen (Top. I 1). Ein Schluss ist nach Aristoteles eine notwendige Folgerung aus vorausgesetzten Prämissen. Ein demonstrativer Schluss beruht auf wahren Prämissen, ein dialektischer Schluss auf wahrscheinlichen Prämissen (dabei ist wahrscheinlich oder plausibel all das, was alle oder doch die meisten Menschen oder zumindest alle Weisen oder doch die meisten Weisen für wahr halten). Ein eristischer Schluss endlich gründet auf nur scheinbar wahrscheinlichen Prämissen oder stellt eine Folgerung dar, die nur scheinbar ein guter Schluss ist.

      Wenn wir plausible dialektische Prämissen finden und angemessene dialektische Schlüsse konstruieren wollen, müssen wir die speziellen logischen »Örter« (Top. II 2, [13]109a) beachten. Dabei sollten wir vor allem die Homonymien und Synonymien berücksichtigen, dürfen also gleichlautende Wörter nicht als bedeutungsgleich und bedeutungsgleiche Wörter nicht als notwendig gleichlautend ansehen. Damit macht Aristoteles klar, dass wir in dialektischen Gesprächen sorgfältige Bedeutungsanalysen voraussetzen müssen, weil für gute Schlüsse semantische Konsistenz unabdingbar ist, wie bereits Sokrates in Platons Dialogen demonstriert hatte.

      Nun kann eine dialektische Argumentation (a) von Prämissen ausgehen, denen die jeweiligen konkreten Gesprächspartner zustimmen, oder (b) von Prämissen, die zusätzlich auch von allen oder den meisten Menschen oder doch zumindest von allen oder den meisten Weisen als zutreffend angesehen werden (Top. I 1, 100a–b). Der Fall (b) stellt eine weitaus schärfere Bedingung für die Akzeptanz einer Prämisse dar. Wir können daher von zwei Formen der Dialektik sprechen, einer Dialektik ad hominem (a) und einer allgemeinen Dialektik (b).

      Wer die Technik der dialektischen Diskussion lernen will, muss nach Aristoteles auch ein metaphysisches Basiswissen haben, das für die Bestimmung der logischen Örter relevant ist. So bestimmt er beispielsweise (Top. I 4–5):

      Jeder prädikative Satz der Form »A ist B« oder, invers formuliert, »Das B kommt dem A zu« hat eine von vier möglichen Formen: (a) B ist Definiens von A; (b) B ist Gattung oder spezifische Differenz von A; (c) B ist Proprium von A; (d) B ist Akzidenz von A. Diese Formen werden genauer bestimmt: B ist Definiens von A, wenn B das A identifiziert (z. B. »vernünftiges Lebewesen« für »Mensch«). B ist Gattung von A, wenn B dem A notwendigerweise [14]zukommt; und A ist spezifische Differenz von B, wenn A der engste Unterbegriff ist, der zusammen mit der Gattung von B das Definiens von B bildet (z. B. »Lebewesen« ist Gattung von »Mensch«, und »vernünftig« ist spezifische Differenz von »Mensch«, wenn »Mensch« sich durch »vernünftiges Lebewesen« definieren lässt). B ist Proprium von A, wenn B zwar nicht essenziell ist für A, wenn aber B stets allen und nur den As zukommt (z. B. »fähig zu lachen« für Menschen). B ist Akzidenz von A, wenn B den As zukommen oder auch nicht zukommen kann, also eine kontingente Eigenschaft der As ist (z. B. »musikalisch« für Menschen).3 Jetzt können wir uns einige Beispiele für logische Örter ansehen4:

      (a) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Akzidenz von A ist, dann kann der Opponent versuchen zu zeigen, dass B Proprium oder Gattung oder spezifische Differenz von A ist (und umgekehrt). Das kann unter anderem so geschehen: Ist B Akzidenz von A, so auch C, wenn C Gegensatz von B ist; der Opponent könnte also zu zeigen versuchen, dass ein Gegensatz von B etwa Gattung eines Dinges ist (Top. II 2, 109b–110a).

      (b) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Gattung von A ist, so kann der Opponent nachzuweisen suchen, dass es As gibt, die nicht B sind, denn wenn B Gattung von A ist, kommt B allen As zu (Top. II 3, 110a).

      (c) Man darf nicht Gattung und Differenz verwechseln. Wer z. B. behauptet, das Staunen sei ein Übermaß an Verwunderung, setzt sich dem Einwand aus, dass [15]Staunen nicht eine Art von Übermaß, sondern eine Art von Verwunderung ist – nämlich eine übermäßige Verwunderung. Man sollte auch nicht Gattung und Materie von Dingen verwechseln. Wer z. B. sagt, Wind sei bewegte Luft, liegt falsch, denn Luft ist nicht Gattung, sondern materieller Träger von Wind – Wind ist eine Bewegung der Luft (Top. IV 1, 121a).

      (d) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Proprium von A ist, dann kann der Opponent zu zeigen versuchen, dass es As gibt, die nicht B sind, oder dass es Bs gibt, die nicht A sind (Top. II 4, 111b).

      Oft stellen Proponenten oder Opponenten in ihren Diskussionen Definitionen auf. Aristoteles macht daher in der Topik auch einige allgemeine Bemerkungen zu angemessenen Definitionen, die aus Gattung und spezifischer Differenz bestehen (Top. I 8, 103b) und natürlich ebenfalls als logische Örter verwendet werden können; auch diese Bemerkungen setzen Einsichten der frühen essenzialistischen Metaphysik voraus (Top. VI 1–2):

      (i) Eine Definition ist angemessen, wenn ihr Definiens (a) deutlich ist, (b) keine überflüssigen Zusätze enthält, (c) Proprium für das Definiendum ist, (d) die Essenz des Definiendums angibt, (e) zur Erkenntnis des Definiendums beiträgt, (f) nicht zirkulär ist, (g) mindestens Gattung und spezifische Differenz angibt.

      (ii) In (i) ist (d) – die Angabe der Essenz – im Wesentlichen auf (c), (g) und (e) reduzierbar: Die Essenz eines Dinges anzugeben heißt, Merkmale anzugeben, die insgesamt ein Proprium des Dinges sind, seine Gattung und [16]spezifische Differenz enthalten und explanatorisch fruchtbar für weitere Merkmale des Dinges sind.

      Definitionen sind nach der Topik also nicht Explikationen von Wortbedeutungen, sondern wahre universelle Sätze über die Welt, die ein Ding identifizieren und erklären können.

      Allgemein wird das methodisch angeleitete dialektische Gespräch nach Aristoteles durch zwei neutrale Bedingungen bestimmt: durch das Konsensprinzip und das Nicht-Widerspruchsprinzip. Der Proponent darf demnach nur fortfahren, wenn der Opponent seinen Thesen zustimmt (Konsens), und er muss einräumen, dass seine These unhaltbar wird, wenn der Opponent ihn zwingen kann, im Rahmen des Begründungsversuchs mindestens einmal einen Satz und dessen Negation zu behaupten (Widerspruch). Wie könnte man die beiden wichtigsten Aspekte einer fairen Diskussion besser charakterisieren?

      In der Topik arbeitet Aristoteles, wie wir gesehen haben, unter anderem mit der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen, dialektischen und eristischen Schlüssen. Bei der Kennzeichnung der eristischen Schlüsse deutet er an, dass diese Schlüsse nur scheinbar gültige Schlüsse sind. Was ist genauer ein gültiger Schluss? Diese nahe liegende und zugleich schwierige Frage hat sich Aristoteles offensichtlich in einer Reflexion auf seine Topik gestellt. Das können wir aus den Anfangskapiteln des ersten Buches seiner Ersten Analytik erschließen, die allein ihn schon für immer unsterblich gemacht hätten (APr. I 1–7). Diese Kapitel enthalten nämlich das Herzstück seiner Syllogistik und damit die Erfindung der formalen Logik, die in der späteren [17]Antike und im Mittelalter auf raffinierte Weise weiterentwickelt wurde.

      Aristoteles selbst nennt seine Syllogistik »Analytik« (Metaph. VII 12, 1037b 9, NE VI 3, 1139b 27). Hintergrund dieser Bezeichnung ist die Idee, dass befriedigendes Wissen oder eine gute Theorie vor allem die Kenntnis der wichtigsten Elemente des jeweiligen Gegenstandsbereichs umfasst. Die methodische Zerlegung eines komplexen Gegenstandsbereichs in einfachere oder einfachste Bestandteile heißt bei Aristoteles »Analyse« (Metaph. IX 10, AN. III 6; NE III 3, 1112b 20–24), und die Zusammensetzung der einfachsten Bestandteile zum gegebenen komplexen Gegenstandsbereich wurde später »Synthese« genannt. Das analytisch-synthetische Verfahren blieb seit Aristoteles für rund zweitausend Jahre das Leitbild für die Etablierung einer wissenschaftlichen Theorie. Die raffinierte Ausgestaltung dieses Leitbildes in einer wissenschaftlichen Analytik führte bei Aristoteles zu der historisch ersten explizit formulierten formalen Logik und Wissenschaftstheorie.5

      Die methodische

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