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von den »Lagern« ziehen wollten, wo viele von ihren Kameraden untergebracht waren. Schon das Wort »Lager« war unangenehm; es erweckte Erinnerungen ans Dritte Reich . . . Hans und Ernst trugen Koffer von den Bahnhöfen in die Hotels; sie halfen in einer Gärtnerei; spülten Teller ab; verkauften deutsche antifaschistische Literatur in den Cafés . . . Nach und nach kam das Heimweh. »Berlin war doch besser«, sagten sie immer häufiger. Die lange Trambahnfahrt vom Wenzelsplatz nach Kosirse wuchs ihnen zum Halse heraus. Sie fanden auch, daß die Stadt schmutzig war; der Kohlenstaub machte die Hemden, das Gesicht und die Hände schwarz. »In Berlin ist man nicht so dreckig geworden«, meinten sie verdrossen, wenn sie sich abends wuschen. — Dabei zitterten sie immer davor, ausgewiesen zu werden.

      Hans gebrauchte immer häufiger seine alten, grimmigen Redensarten: »Man sollte alles zerschlagen. Es muß ein großer Krach kommen, der alles kaputt macht. Alles ist Scheiße.«

      Manchmal aber sagte er zu seinem Freund Ernst: »Ich komme mir selbst schon ganz ulkig vor, weil ich mich an so komische Sachen klammere und über Dinge nachdenke, die in Wirklichkeit sicher ganz unwichtig sind. Dieses Mädel da, die Freundin vom Konni, der ich immer Briefe schreiben muß —: ich habe so ein Gefühl — die ist eine brave Person; die wäre vielleicht was für mich; die könnte mir vielleicht helfen . . . «

      »So’n Quatsch«, sagte Ernst.

      Kikjou war bei Martin geblieben. Das Zimmer im Hotel »National«, wo es nach Staub und nach Jasmin-Parfum roch, war eigentlich zu eng für zwei Personen. Aber sie merkten es nicht.

      Sie sahen fast niemanden, immer nur einer den anderen. Manchmal trafen sie Marion für eine halbe Stunde. »Marion ist wunderbar«, sagten sie, wenn sie sich wieder von ihr getrennt hatten. »Aber ohne sie ist es doch noch besser.«

      Wie lange dauerten diese ersten Tage der unendlichen Gespräche und der unendlichen Umarmungen? Eine Woche, oder zwei, oder drei? — In Wahrheit mochten es vielleicht zehn Tage sein.

      Als Martin eines Morgens aufwachte, kauerte Kikjou neben ihm im Bett und schaute ihn sinnend an aus den vielfarbigen Augen. Den Unterkiefer hatte er vorgeschoben; mit beiden Händen hielt er einen Strohhalm, an dem er eifrig kaute. Sein bleiches Gesichtchen glich dem Antlitz eines müden, zarten kleinen Affen.

      »Mon petit singe!« lachte Martin. »Was ist mit dir los? Du siehst aus wie ein zwölfjähriger Junge, der eine fürchterliche Unart ausbrütet. Was hast du vor?«

      »Ich muß wegfahren«, erwiderte Kikjou, immer noch den Strohhalm zwischen seinen Zähnen. Und als Martin sich erschrocken erkundigte: »Wohin?« sagte er, mit einer sanften Stimme, die aber keinen Widerspruch duldete: »Nach Belgien, zu meinem Onkel. Vielleicht wird er mir verzeihen.« — Was der Onkel ihm verzeihen solle, wollte der fassungslose Martin wissen. — »Daß wir so viel gesündigt haben«, war die ernste Antwort des kleinen Kikjou.

      Nun ärgerte sich Martin ein bißchen. »Wenn das Sünde ist . . .«, machte er beleidigt.

      Kikjou legte ihm begütigend die Hand auf die nackte Schulter. »Sei nicht böse!« Dabei hatte er die Augen voll Tränen. »Ich weiß nicht, was Sünde ist. Niemand weiß es. Sogar der Onkel weiß es wohl nicht genau. Vielleicht ist dem lieben Gott besonders wohlgefällig, was die Menschen in ihrer Torheit für entsetzlich halten. Uns wird nicht mitgeteilt, wann wir Anstoß und wann wir Freude erregen. — Aber ich brauche ein paar stille Tage, um nachzudenken.« —

      Als Kikjou abgereist war, wurde Martin sehr traurig. Wenn er mit Marion, Helmut Kündinger und den anderen Freunden in einem Montparnasse-Café saß, sehnte er sich nach der Einsamkeit seines Zimmers. Dort aber war es noch ärger, und er lief zu Professor Samuel oder zur Schwalbe, weil er es nicht aushielt, allein zu sein. Kikjou hatte die Adresse des frommen Onkels in Belgien nicht verraten. »Ich werde von mir hören lassen — wenn es Zeit ist . . .«, hatte er beim Abschied geheimnisvoll gesagt. Martin konnte ihm nicht einmal schreiben.

      Manchmal dachte er: ›Es ist vielleicht gar nicht Kikjou, nach dem ich mich sehne. Ich sehne mich nach Berlin. Ich habe Heimweh nach den Straßen von Berlin, nach ein paar Lokalen und ein paar Menschen, und vielleicht sogar nach den alten Korellas . . . Ich habe mich doch recht an sie gewöhnt in all den Jahren, obwohl sie mir oft entsetzlich auf die Nerven gingen. Es war so angenehm, Menschen zu haben, die sich immer Sorgen um einen machten. Man braucht das, es erhöht das Selbstgefühl . . .‹

      ›Nein‹, beschloß er dann wieder, ›in Berlin möchte ich gar nicht sein. Es ist gräßlich dort. Ich bin froh, daß ich diese Stadt nicht mehr sehen muß. Heimweh nach der Stadt habe ich sicher nicht. Es ist die eigene Kindheit, nach der ich Heimweh habe. Ich möchte wieder mit Marion im Garten Murmeln spielen oder Krocket, und mich vom Vater ein bißchen schimpfen. lassen, weil ich zu spät nach Hause komme zum Abendessen. Was für gute Zeiten sind das gewesen! Nach ihnen sehne ich mich . . . Sogar das Kranksein hatte seine Reize. Die schmeichelhafte Sorge, von der man umgeben wurde, war dann am stärksten und zärtlichsten . . . Mutter hatte viel Talent zur Krankenpflegerin . . . Wie alt mag ich gewesen sein, als ich die Nieren-Koliken hatte, die so ungeheuer schmerzhaft waren? . . . Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt . . . Sonderbar eigentlich: später habe ich nie wieder mit den Nieren zu tun gehabt . . . Die arme Korella rang vor Entsetzen die Hände, wenn ich mich in Schmerzen wand. Vielleicht krümmte ich mich sogar mehr, als unbedingt nötig war, weil es mir Vergnügen machte, Mutter die Hände ringen zu sehen . . . Außerdem hatte ich wohl noch andere Gründe, meine Qualen zu übertreiben. Denn ich mochte das Mittel sehr gern, das der Hausarzt mir verabreichte. »Da müssen wir wohl etwas Linderndes geben«, sagte der Onkel Doktor und schmunzelte wie der Weihnachtsmann, ehe er die Geschenke auspackt. Dann applizierte er mir eine Spritze ins Bein. Ich hatte erst etwas Angst vor dem Stich; aber bald gewöhnte ich mich daran. So angenehme Gefühle kamen über mich, nach der Injektion . . . Stundenlang lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett; aber geschlafen habe ich nicht. Obwohl ich wach war, kamen die Träume. Recht hübsche Träume, wie ich mich erinnere . . . Die Nieren-Schmerzen, so arg sie waren, nahm ich gern in Kauf, um der reizenden Träume willen . . . ‹ —

      An diesem Abend besuchte Martin allein eine Music-Hall im Faubourg Montmartre. Dort trat ein Clown auf, über den er sich früher einmal in Berlin amüsiert hatte. Er versprach sich eine Zerstreuung davon, ihn wieder zu sehen. Aber das Programm langweilte ihn. Der berühmte Komiker sollte erst nach der Pause erscheinen. Martin hatte sich eine billige Karte genommen, die ihn nur zum Aufenthalt im »Promenoir«, dem Steh-Parterre, berechtigte. Die Luft dort war heiß und stickig. Martin fühlte sich müde und angewidert. Im Zwischenakt trank er einen doppelten Cognac am Buffet. Dann verließ er das Theater und ging zum Boulevard Clichy hinauf.

      Er trank noch mehrere Cognacs in mehreren kleinen Bars, und schließlich blieb er in einem stillen Café, nahe der Place Blanche, sitzen. Er bestellte sich einen Pernod Fils; dann noch einen. Der Kopf wurde ihm ziemlich schwer. ›Hier ist es relativ angenehm‹, dachte er und legte die heiße Stirn in die Hände. ›Hier bleibe ich eine Weile. Wenn ich sehr spät nach Hause komme und ziemlich viel Pernod getrunken habe, werde ich vielleicht schlafen können.‹

      Es gab fast keine Gäste im Lokal. Das elektrische Klavier spielte die Ungarische Rhapsodie von Liszt. Der Barmixer — ein sehr magerer, bleicher Bursche mit tiefen Schatten um die trostlos blickenden Augen — unterhielt sich, über die Theke weg, mit einem Mann, der Martin den Rücken zudrehte. Es kam dem Einsamen vor, als ob die beiden über ihn sprächen. Der Mixer schaute mehrfach zu ihm hin, und der Mann an der Bar drehte sich einmal um, um ihn schnell und scharf zu fixieren. Aber Martin war nicht neugierig auf die Geheimnisse der Zwei. ›Vielleicht überlegen sie sich, ob sie mir ein Mädchen verkaufen können«, dachte er verächtlich. ›Wahrscheinlich die dicke Alte, die dort drüben in der Ecke schlummert.‹ Er schloß die Augen. ›Diese Ungarische Rhapsodie ist ein hundsordinäres, aber immer wieder effektvolles Stück. Komisch, wie mich das rührt . . . Jetzt könnte ich weinen. Aber das wäre ein zu idiotisches Benehmen: einsam in einer kleinen Montmartre-Bar sitzen, diese gemeine Musik hören und Tränen vergießen . . . Wenn ich nur Kikjous Adresse wüßte, dann könnte ich ihm gleich ein paar Zeilen schreiben — das wäre jetzt die beste Beschäftigung . . . Seine Geheimnistuerei mit dem katholischen Onkel ist etwas kindisch . . . Ob er wirklich an den lieben Gott glaubt? . . . Alter Herr Korella

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