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aus und bekam nur ein paar Shilling zurück.

      Da sie noch fast eine Stunde Zeit hatte, ging sie zur Damentoilette und erfrischte sich erst einmal. Anschließend ging sie zu dem Bäckerladen, der ihr auf dem Weg aufgefallen war, und kaufte sich zwei frische Brötchen, die mit Zucker bestreut waren. Einen Penny pro Stück mußte sie zahlen. Melinda setzte sich damit in den Wartesaal und aß sie mit großem Appetit.

      Und dann kam die Nervosität. Melinda hatte Angst, daß der Zug Verspätung haben könnte, daß jemand sie erkennen und von der Reise abhalten würde, daß man schlecht von ihr denken würde, weil sie allein war und sich das nicht gehörte für ein junges Mädchen aus gutem Haus.

      Jedesmal, wenn die Tür aufschwang, sah Melinda erschreckt hoch, aber nichts passierte. Und als dann endlich der Zug langsam einfuhr, war plötzlich der ganze Bahnsteig voll von Menschen, die aus dem Boden gewachsen zu sein schienen. Kofferträger, Reisende, Bahnangestellte, Männer, Frauen und Kinder; es wimmelte von Menschen.

      Als der Zug endlich zum Stehen kam, erfaßte alle eine fast hysterische Hast. Alles schrie durcheinander und rannte hin und her. Melinda wurde geschubst und gestoßen und schließlich half ihr jemand beim Einsteigen. Weitere fünf Reisende kletterten in das Abteil, und die Tür wurde zugeschlagen.

      Melinda saß am Fenster. Ihr gegenüber hatte ein Herr Platz genommen, der in ein Cape aus dickem Tuch gewickelt war. Trotz des sommerlichen Wetters schien er Angst zu haben, erfrieren zu müssen. Seine Frau hatte einen Schleier stramm über das Gesicht gebunden und war ebenfalls in ein Cape gehüllt, das mit Ripsbändern eingefaßt war. Die anderen drei Reisenden waren Männer. Melinda hielt sie für Geschäftsleute, obwohl sie noch nie mit Menschen zusammengekommen war, die sich ihren Lebensunterhalt durch das Handeln von Waren verdienten. Als die Männer dann über Abschlüsse und Kunden sprachen, wußte Melinda, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Einer sagte sogar Geschäften müßten die Augen aus dem Kopf springen, wenn sie die Qualität sehen würden.

      Als ein schriller Pfiff ertönte und der Zug sich langsam in Bewegung setzte, hielt Melinda die Luft an. Sie hatte es geschafft. Sie war ihrem grausamen Onkel entkommen. Der Zug, der schneller war als Sir Hectors Pferde, brachte sie nach London. Sie war gerettet und konnte Colonel Gillingham vergessen.

      Vor Erleichterung hätte sie fast geweint, aber tapfer schluckte sie die Tränen hinunter. Sie war zu stolz, sich vor anderen Gefühle anmerken zu lassen. Es war ein seltsames Gefühl. Der Waggon schwankte hin und her, die Räder ratterten auf den Eisenschienen, Qualm zog am Fenster vorbei. All das war neu für Melinda und so ungewöhnlich, wie wahrscheinlich ihr Leben von jetzt an sein würde.

      Melinda schloß die Augen und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie tun mußte, wenn sie in London ankam. Gegen ein Uhr mußte der Zug dort eintreffen. Damit hatte sie den ganzen Nachmittag Zeit, sich eine manierliche Unterkunft zu suchen und sich zur Agentur von Mrs. Brewer durchzufragen.

      Melinda hätte den Namen nicht gekannt, hätte sie nicht für ihre Tante mehrere Briefe an die Dame geschrieben, die Stellen vermittelte. Lady Margaret hatte eine neue Haushälterin gesucht und sich deshalb an die Agentur gewandt. An die Adresse konnte Melinda sich unglücklicherweise nicht erinnern. Aber sie würde sie schon in Erfahrung bringen. Daß sie keine Zeugnisse vorzuweisen hatte, war unangenehm, aber Melinda war auch diesbezüglich zuversichtlich. Sie nahm sich vor, einfach zu sagen, daß sie Lady Stanyons Nichte war, und sie konnte nur hoffen, daß Mrs. Brewer nicht an ihre Tante schrieb.

      Langsam begriff Melinda, daß sich mehr Schwierigkeiten ergaben, als sie anfangs gedacht hatte. Sie war einfach blind weggelaufen, hatte aber nicht in Erwägung gezogen, daß sie vielleicht gezwungen war, zurückzukehren, falls sie keine Arbeit fand.

      Ich muß es schaffen, für meinen Lebensunterhalt selbst aufzukommen, sagte sie sich immer wieder. Und ich muß von vornherein damit rechnen, daß meine Lage nicht einfach sein wird.

      Melinda bedauerte es inzwischen, nicht doch Zweiter Klasse gelöst zu haben. Die sechs Goldmünzen, die ihr noch geblieben waren, kamen ihr zwar wie ein Vermögen vor, denn sie hatte seit dem Tod ihrer Eltern immer nur ein paar Shilling in der Tasche gehabt, aber trotzdem wußte sie, daß sie nicht lange von dem Geld leben konnte.

      Und vor Taschendieben muß ich mich hüten, dachte sie.

      Wie in Wellen schlug immer wieder die Angst über ihr zusammen. Und jedes Mal versuchte sie sich einzureden, daß sie schon durchkommen und daß Gott sie beschützen würde. Sie versuchte zu beten und döste darüber ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatten ihre Mitreisenden den Proviant ausgepackt.

      Der Herr in dem Cape und seine Frau hatten einen ganzen Korb voll Essen mitgebracht. Die Geschäftsleute packten Berge von belegten Broten aus. Melinda war hungrig und ärgerte sich, daß sie beim Bäcker nicht noch ein paar von den gezuckerten Brötchen gekauft hatte.

      Der Mann ihr gegenüber nagte an einem Hühnerbein. Danach aßen er und seine Frau frische Erdbeeren, die sie mit Zucker bestreuten. Sie hatten eigens ein silbernes Gefäß dafür mitgebracht. Melinda sah ihnen fast gierig zu. Ihr Rücken schmerzte. Sie zwang sich, aus dem Fenster zu blicken, denn sie wollte den Leuten beim Essen nicht auch noch zusehen.

      „Ich habe eigentlich keinen Hunger“, sagte die Frau, die den Schleier einfach hochgeschoben hatte, um den Mund frei zu bekommen. „Der Wagen schwankt so, daß mir fast schlecht ist.“

      „Willst du vielleicht einen Schluck Cognac?“ fragte ihr Mann.

      „Um Gottes willen!“ Die Frau tat so, als sei ihr Gift angeboten worden. „Aber eventuell ein Glas Champagner.“

      „Aber gern, mein Herz.“

      Der Mann holte eine halbe Flasche Champagner aus dem Korb, den er neben Melinda auf den Boden gestellt hatte. Melinda roch das Brathuhn und die Erdbeeren und bekam noch mehr Hunger.

      Der Mann goß den Champagner ein.

      „Wir haben noch so viel übrig“, flüsterte er seiner Frau zu, aber Melinda verstand jedes Wort. „Sollen wir der kleinen Lady nicht etwas anbieten?“

      „Du wirst dich hüten!“ herrschte ihn die Frau an. „Ein Mädchen, das allein reist, ist keine Lady. Du sprichst nicht ein Wort mit ihr, hörst du?“

      Melinda schloß die Augen. So würde es ihr in Zukunft noch oft ergehen. Eine Frau ohne Begleitung war verdächtig und mußte gemieden oder zumindest ignoriert werden. Sie war froh, als der Korb endlich wieder unter der Bank verstaut wurde.

      „In einer Stunde sind wir da“, sagte irgendwann einer der Geschäftsleute.

      Dann kaufe ich mir als Erstes etwas zu essen, dachte Melinda.

      Kurz darauf fuhr der Zug plötzlich immer langsamer. Melinda sah aus dem Fenster. Schließlich stand der Zug.

      „Warum halten wir denn hier?“ fragte einer der Männer.

      Ein anderer zog das Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus.

      „Ich sehe nichts“, sagte er. „Hallo, Schaffner! Was ist denn da los?“

      „Ich weiß es auch nicht, Sir“, sagte der Mann, der offensichtlich ausgestiegen war. „Ich nehme an, daß die Schienen blockiert sind.“

      Die Schienen waren tatsächlich blockiert, und es dauerte fünf Stunden, bis der Zug endlich weiterfahren konnte. Die Reisenden stiegen aus, gingen nach vorn und sahen zu, wie der riesige Haufen aus Sand und Steinen abgetragen wurde.

      Melinda war wie die anderen aus dem Wagen geklettert, hatte sich die Beine vertreten und sich schließlich ins Gras gesetzt. Sie war immer hungriger geworden und hatte sich schließlich an den Schaffner gewandt.

      „Meinen Sie nicht, ich könnte irgendwo etwas zu essen kaufen“, sagte sie. „Ich habe den Zug noch in letzter Minute erwischt und hatte keine Zeit mehr, mir etwas zu besorgen.“

      „Das ist natürlich schlecht“, sagte der Schaffner, „denn mit so einem Zwischenfall muß man immer rechnen.“

      „Das ist mir auch klargeworden“, sagte Melinda und

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